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on seinem Arbeitsplatz am Fenster aus, der ihm gestattete,
den ganzen unteren Teil der Hauptstraße zu überblicken, sah
der Apotheker Brandt beinahe alles, was sich im Lauf des
Tages hier zutrug. Seine Beschäftigung ließ ihm Zeit genug zu Be-
obachtungen, und wie bedeutungslos an und für sich auch die kleinen
Vorkommnisse des spärlichen Straßenlebens scheinen mochten, sie
hatten sich ihm doch nach und nach zu Zusammenhängen gefügt, die
ihn vielfach besser über die Menschen seiner Umgebung unterrichteten,
als es klarer kaum im unmittelbaren persönlichen Verkehr möglich
gewesen wäre. Er zog seine Schlüsse aus der Art, wie sich die Leute
bewegten, aus dem Ausdruck ihrer Gesichter, aus der Beflissenheit,
mit der sie einander suchten oder auswichen. Und der alte Sanitäts-
rat, der sehr häufig bei ihm vorsprach, war immer aufs neue er-
staunt, wenn der wortkarge Apotheker ein treffendes Urteil abgab
über Persönlichkeiten, mit denen er nach seinem eigenen Geständnis
kaum mehr als ein Dutzend gleichgültiger Worte gewechselt hatte.

Die Falkner auf Lindenhöhe.
Roman von Reinhold Ortmann.
(Fortsetzung.)

Wie er alles sah, hatte es ihm auch nicht entgehen können, daß
die schöne junge Frau aus dem Landhause auf der Lindenhöhe nun
schon an drei aufeinanderfolgenden Tagen zu derselben frühen
Nachmittagstunde allein durch die Hauptstraße gegangen war, um
in der Tür des Postamtes zu verschwinden. Wie dringlich auch die
Arbeit sein mochte, mit der er sich gerade befaßte, war er doch jedes-
mal so lange müßig geblieben, bis sie das Gebäude wieder verlassen,
um mit den raschen federnden Schritten, die eine reizvolle Eigen-
tümlichkeit ihres Ganges ausmachten, den Rückweg einzuschlagen.
Darauf, daß sie einmal in die Apotheke eintreten könnte, rechnete
er wohl kaum. Denn sie schenkte dem Auslagefenster mit den Seifen,
Parfümerien und kosmetischen Hilfsmitteln ebensowenig Beachtung
wie den anderen bescheidenen Sehenswürdigkeiten der Tiefen-
brunner Hauptstraße. Immer lag ein gelangweilter und hoch-
mütiger Zug in ihrem Gesicht, und schon die Art, wie sie den Kopf
trug, ohne je nach rechts oder links zu blicken, wirkte wie ein deut-
licher Beweis der Geringschätzung der kleinstädtischen Umgebung.
Aber er sah ihr doch immer nach, bis die Bäume des Lindenweges
die vornehme geschmeidige Gestalt seinen Blicken entzogen. Und
auch wenn er nichts mehr von ihr zu erspähen vermochte, gingen
gewöhnlich noch Minuten hin, ehe er seine Tätigkeit wieder aufnahm.

Kiew, die Hauptstadt der Ukraine.


XI. 1918.
 
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