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DasBuchfüvAÜL

81

Au Zum Tage Allerseelen.
Von 3 da Bock.
bseits von dem kleinen Ort liegt der Bergfriedhof auf dem
Hügel unterhalb des hochanstrebenden Berges, an den sich das
Dorf mit seinen wenigen Häusern anschmiegt. Ein vier-
eckiger Platz ist es, von einer niederen, gelblichen Mauer umfriedet.
Ein paar alte, dichtbelaubte Bäume neigen ihre Aste darüber hin,
Steinkreuze ragen in die durchsichtige Luft, auf Metallschmuckwerk
und Perlenzierat funkelt goldiger Sonnenschein; Schmetterlinge
taumeln wie trunken im Sonnenglast, Mücken und Fliegen schwirren,
Vögel Zwitschern. Kein anderer Laut unterbricht die traumhafte
Stille dieses abgeschiedenen Erdenflecks.
Jetzt knirscht der Sand.unter Tritten, und durch die Reihen der
Gräber schreitet langsam, wie suchend, eine schlanke Frau. Mit tief
gesenktem Kopf geht sie, zögernd, als fiele ihr jeder Schritt schwer.
Auf ihren blassen Zügen liegt ein qualvoller Schmerzensausdruck,
der den herben Mund fast hart scheinen läßt, so fest pressen sich die
feinen Lippen aufeinander. Das an den Schläfen weiß schimmernde
Haar umrahmt in reicher Fülle das schöne Gesicht, auf dem nicht
nur die Zeit unverwischbare Spuren eingegraben.
Dicht an der Mauer liegt ein frischaufgeworfener Hügel mit
einem schlichten, schmucklosen Holzkreuz. In halbverwelkten Feld-
blumensträußen und Kränzen raschelt leise der Wind. Eine kleine
weiße Tafel trägt in schwarzer Schrift den Namen und Todestag
dessen, der da unten seinen langen Schlaf schlief. Die Frau bleibt
vor dem schlichten Grab stehen; ihre Augen lesen den Namen eines
Mannes, der Jahre und Jahre ausgelöscht war aus ihrem Erinnern,
ausgelöscht sein sollte — und doch unverlierbar unter tausend Schmer-
zen lebendig geblieben war in ihrer Seele. Schmerzliche Erinne-
rungen stiegen aus ihrem Herzen auf und erfüllten ihr Gemüt mit
verworrenen Empfindungen weher Qual. Reglos stand sie, ihre
Augen, schöne, traurige Frauenaugen, ruhten lange auf dem kleinen
Schildchen, das hell in der Sonne glänzte. In ihrem Gesicht zuckte
es, ihre Hände schlossen und öffneten sich voll haltloser Pein; ihre
Knie schwankten. Mit einem Wehlaut, der wie ein leises Liebes-
wort klang, sank sie vor dem Hügel nieder und preßte ihr tränen-
überströmtes Gesicht in die vertrockneten Blumen. Zusammen-
gekauert saß sie am Rande des einsamen, verlassenen Grabes; ihre
zitternden Hände glitten wie in scheuer Liebkosung über ein Brief-
blatt, das bei jeder Berührung leise knisterte.
Dort unten in dem kleinen, weltabgeschiedenen Bergdorf hatten
sie die ersten Wochen nach der Hochzeit verbracht, traumstille Tage
voll tiefinnerer Seligkeit. Jetzt, da sie daran zurückdachte, konnte
sie kaum mehr fassen, daß sie einmal so selig war, so wunschlos glück-
lich. Wie unsagbar schön waren diese langen Spaziergänge durch
die schon herbstlich werdende Natur mit ihrer üppigen Fülle und
Farbenpracht gewesen. Wie berauscht waren sie beide, wenn sie,
eng aneinandergeschmiegt, heimwanderterh zeitlos, wunschlos, erfüllt
von tiefer Glückseligkeit. Von Ferne her drangen Helles Lachen und
Gesang der Bauernburschen und Mädchen herüber, die in den Wein-
gärten die Trauben schnitten. Und mitten hinein in den verschwende-
rischen Reichtum einer aus dem Vollen spendenden Natur vernahm
sie das leise Rascheln vereinzelter gelber Blätter, die der Abendwind
vor ihre Füße wehte. Erschauernd stieg die Ahnung von der Ver-
gänglichkeit alles Irdischen in ihr auf. Und wie war es damals ge-
wesen, als sie ihn umklammerte, ihm glaubte, daß ihr Glück und
ihre Liebe unvergänglich seien und ewig. Ewig wie die Sterne am
hohen Himmelsgewölbe, die funkelnd aufstiegen mit dem sinkenden
Abend, wenn es dunkler wurde und die Dämmerung die Ferne weich
verhüllte. In solchen Dämmerstunden brach es dann oft auch aus
ihm heraus wie Angst, wenn sie vom künftigen Leben sprachen,
von all dem, was sie von ihm erwartete und forderte. Da hatte er
oft ihre Hände an seine Lippen gepreßt und gebeten: „Verlange
nicht zu viel! Schätze mich nicht zu hoch ein. Meine Liebe zu dir
ist rein und tief, aber ich bin kein Großer — kein Starker, kein Held.
Du mußt Geduld mit mir haben, viel, viel Geduld, Maria!"
Geduld? Sie begriff nicht, was er damit sagen wollte. Sie liebte
ihn und sah ihn so, wie sie ihn sehen wollte, nach ihrer Sehnsucht
sehen mußte. Sie begriff es nicht, bis der Alltag kam und das
Leben Stück um Stück von all den hohen Wünschen und Zielen zer-
störte, für die sie ihn fähig glaubte und stark genug, sie zur Tat zu
machen, zur schönen Wirklichkeit. Nein, sie war nicht geduldig ge-
I V. UM..


wesen; sie konnte es nicht sein, heute wußte sie das, und aufschluchzend
preßte die einsame Frau das Briefblatt an die Lippen, das letzte
Blatt, das sie von dem erhalten, der nach einem vergeudeten, ver-
fehlten, armen Leben hier unter dem Hügel ruhte. Jedes dieser
Worte brannte in ihr wie heiße Flammen.
Jahre waren vergangen, ihr altes Leben versunken, gewaltsam
der Name getilgt daraus, der einmal alle Seligkeit für sie umschloß.
Als der Brief kam, fühlte sie, daß sie sich selbst betrogen, daß unver-
gessen die Liebe zu dem Mann noch immer in ihr lebte, dessen Weib
sie gewesen eine kurze Spanne Seligkeit lang, und den sie verachtet
hatte, weil er sich ihr als ein schwacher, irrender Mensch gezeigt.
Mit vor Tränen verdunkelten Blicken starrte sie wieder auf den
Brief, aus dem der scheinbar für immer Vergessene noch einmal zu
ihr sprach, den sie längst verstummt gewähnt.
„Meine Maria, ja, ich darf es sagen — meine — denn nie hörtest
Du auf, es zu sein. Ich konnte Dich nicht vergessen, niemals loskommen
von Dir. Und doch tat ich Dir das Schwerste an, was ein Mann dem
Weibe tun kann, von dem er sich geliebt weiß, und dessen Wesen er
kennt. Ich mußte es wissen, weil mir keiner Deiner Gedanken fremd
war, daß Du Handlungen nie verzeihen würdest, die man nur zu
entschuldigen vermag, wenn man weniger starr geartet ist als Du.
Du konntest es nicht, denn Du gabst alles und fordertest alles dafür.
Und ich, Maria, wußte es, und bedachte das nicht. Erinnere Dich,
wie oft ich Dich bat: habe Geduld. Wie oft sagte ich Dir, ich bin nicht
geschaffen, daß man zu viel von mir verlangen darf; wußte ich doch,
daß ungestüme Forderungen Trotz und böse Instinkte in mir weckten.
Du konntest das nicht begreifen, und da beginnt auch Deine Schuld.
Ich liebte die andere nicht. Nein, Maria, ich liebte sie nie, und keine
Unwahrheit kann in dieser Stunde mehr aus meinem Herzen kommen.
Es war Trotz, nichts anderes, Trotz, was mich zu ihr führte. Viel-
leicht trieb mich damals auch der dunkle Wunsch von Dir, einmal wieder
ohne den Zwang zu sein, den Deine Reinheit, Deine so selbstverständ-
liche, starre sittliche Forderung mir auferlegte. Wir sind ja alle
aus Widersprüchen zu unserem und anderer Leid zusammengesetzt,
wir armen Menschen. Du liebtest mich und wolltest mich ernst-hohen
Zieleiz zuleiten, und die andere war fröhlich mit mir und hatte Fehler
wie ich. Das war der Grund, Maria, weshalb ich mich abwandte
von Dir. Und das hast Du nicht verstanden, nicht verstehen wollen.
Du wurdest schroff und hart — und so schoben sich trennende Mächte
zwischen Dich und mich. Ich wollte zuletzt bewußt der schlechte Mensch
sein, als den Du mich ansahest. Ich wurde leichtsinnig, um zu ver-
gessen, daß ich selbst es war, der sich sein Glück zerstörte. Denn Du
allein warst mein Glück; Du, Maria, Du, nur Du. Doch auch das
sollte ich später erst ganz erkennen; mit allen Schmerzen erleben,
da es zu spät war. Als ich älter wurde und müder und die Einsam-
keit mich umfing und die Sehnsucht nach Deinen weichen, zärtlichen
Händen, nach dem lieben Laut Deiner Stimme, nach den reinen,
süßen Lippen, die einst mein waren — nur mein —, da erfuhr ich
auch das Herbste noch, daß ich mein einziges Glück selbst vernichtete.
Der Krieg rüttelte mich auf. Ich ging nicht fort als Schwärmer,
nicht Begeisterung trieb mich und ein eingeredetes Heldentum.
Nichts davon war in mir lebendig. Ich bin nie ein Held gewesen
und war es auch in der Stunde nicht, da ich mich freiwillig entschloß
zu gehen. Ich tat meine Pflicht wie einer, der nichts mehr zu ver-
lieren und nichts zu gewinnen hat. Was ich ersehnte, einen schnellen
Tod, im dichtesten Gewühl hinweggefegt zu werden, ohne zu denken,
auch das blieb mir versagt. Die Kugel, die meine Lunge durchbohrte,
hätte barmherziger sein sollen! Ich siechte langsam dahin. Doppelt
hart für einen Verlorenen, der einsam ist. Ich ließ mich hierher
bringen, wo die Zeit um mich erstand, da wir beide jung und selig ge-
wesen und die Erinnerung ihre weichen, warmen Arme um mich legte.
Wenn in meiner letzten Qual mich oft tiefe Sehnsucht überfiel, und
alles in mir nach Dir verlangte und ich, schwach werdend, Dich
rufen wollte, dann hielt mich doch immer die dunkle Angst zurück,
daß Du auch diese Bitte unerfüllt lassen könntest, hart wie Du meine
Briefe alle zurückgewiesen hast. Damit wäre das letzte von mir ge-
nommen worden, das reine Bild von Dir, das sich in mir aus den
Erinnerungen der kurzen Zeit unserer Gemeinsamkeit hier wieder-
entfaltete. Und so schwieg ich und blieb allein mit meiner wehen
Qual und meiner schmerzenvollen Sehnsucht. Wissen sollst Du aber,
daß Du bei mir warst, und daß mein letzter Atemzug Deinen Namen
stammeln wird; wissen sollst Du es aber erst, wenn für mich alles
vorbei sein wird. Vielleicht führt Dich Dein Weg noch einmal in das
kleine Bergnest. Dann komm zu mir, Du Stolze, Herbe, Unver-
söhnliche. Und wenn Deine liebe Hand, nach deren Druck ich mich
 
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