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wandt fühlte, sprach es aus, daß Scherrs Schriften in jedem deutschen Haus stehen
sollten. Und die meisten seiner Werke drangen auch weit ins Volk. In seiner
„Germania"*) gestaltete er Bilder einer zweitausendjährigen Kulturgeschichte im
Freskostil, hier gab er uns einen meisterhaften Überblick über die Kulturentfaltung
unseres Volkes in seinem Aufstieg zur Gröhe in einer glanzvollen, lebendigen
Darstellung. Sein Buch: „Blücher, seine Zeit und sein Leben" ist heute noch ein
unübertroffenes Gemälde der großen Geschehnisse vor hundert Jahren, und nicht
weniger hoch zu stellen sind seine „Vier Bücher Geschichte von 1870 bis 1871",
in denen er den Untergang des „zweiten Schuftsempire", das nach ihm „die
Kloake aller Kloaken" war, rücksichtslos an den wohlverdienten Pranger stellte.
Johannes Scherr verdankt unsere Sprache nicht wenige Bereicherungen,
und nicht selten prägt er Worte, die sich in bleibender Schlagkraft erhielten; von
ihm stammt das Wort vom „Bildungsphilister". Was würde er heute für ge-
waltige Sätze in die Welt schleudern, er, der von „Englands bronzestirniger
Frechheit", von der „Bleifaust angelsächsischer Unterdrückung" sprach? Unüber-
trefflich schildert er im „Roten
Quartal" dieWirkung französischer
Lügen- und Phrasenhaftigkeit im
bunten Gemisch schaler Selbstüber¬
hebung und leerer, anspruchsvoller
Dünkelhaftigkeit. Der kernhafte
wackere Schwabe Scherr, der sich
wie sein Uhlandsches Vorbild vor
niemand und nichts fürchtete, und
gleich ihm dreinzuschlagen ver¬
stand, war einer von den besten
unseres Blutes.
ls Sohn eines Friesen wurde
Theodor Mommsen am 30.
November 1817 zu Earding im
südwestlichen Schleswig geboren.
In frühester Kindheit kam er mit
den Eltern nach Oldesloe in Hol¬
stein. Hier wuchs er in dem einsam
gelegenen Pfarrhause mit seinen Geschwistern in bedrückten Verhältnissen heran,
vom Vater selbst erzogen, der zu arm war, um seine Kinder in ein Internat zu
geben. Spät erst, am 4. Oktober 1834, trat er in die Prima des Christianeums
in Altona ein; ein Stipendium ermöglichte ihm das Studium. Auch Mommsen
mutzte anfangs sein Brot als Lehrer an einer Altonaer Mädchenschule verdienen,
wo er in sechs Fächern Unterricht zu geben hatte. Schon an der Universität be-
schäftigte ihn das Studium römischer Inschriften, und er wünschte, datz eine voll-
ständige Sammlung lateinischer Inschriften ausgearbeitet werden möge. Von
solchem Geschichtsmaterial erhoffte er erst eine wissenschaftlich genügende Dar-
stellung der Vergangenheit ohne „Phantasien" und
„Rekonstruktionen". Er selbst kennzeichnete seine For-
schungsmethode als „die rücksichtslos ehrliche, im Trotzen
wie im Kleinen vor keiner Mühe scheuende, keinem
Zweifel ausbiegende, keine Lücke der Überlieferung oder
des eigenen Wissens übertünchende, immer sich selbst
und anderen Rechenschaft legende Wahrheitsforschung".
Der Siebenundzwanzigjährige erhielt als „königlich
dänischer Untertan" ein Reisestipendium von je drei-
hundert Talern für zwei Jahre zur Sammlung und
Herausgabe römischer Eesetzesurkunden und eilte nach
Rom. Er durchstreifte die ewige Stadt und sammelte
emsig an allen Orten, und rief einmal aus, als es den
Anschein gewann, datz er in dieser Tätigkeit ein Leben
lang beharren müsse: „Wie viel lieber als anderen
Leuten Ziegel machen, baute ich selbst Häuser!" Aber
er blieb der trockenen Arbeit treu, denn er sagte sich,
datz „wahre Tüchtigkeit darin besteht, zuzugreifen, wo
man eben steht". Das Jahr 1848 rief ihn in sein Vater¬
land, wo er sich politisch zu betätigen und um „jeden
Preis für die Einheit Deutschlands" zu wirken gedachte.
Als sich im Vaterlande nichts fügen wollte, wie man
es ersehnte, schrieb er Worte, die uns auch zur Stunde noch beherzigenswert
klingen sollten: „Gehen wir zugrunde, so sind schuw daran die Klagenden und
Zagenden, die bedenklichen kränklichen Seelen, die überklugen Politiker, die
dengroßenTertderGeschichtemit ihren Fragen und Ausrufungs-
zeichen versehen, die nachhinkenden Kleinmeister, welchen der herrlichste
Sieg nicht genug Resultate gibt, die armen Seelen , welche
keinen Glauben haben an den Gott in der Geschichte, kurz, alle die ho f f-
nungslose Feigheit, die kopfschüttelnde Klugheit, die
wie ein bleiernes Schwergewicht den edlen Enthusiasmus Deutschlands nieder-
ziehen möchte." Bitter rief er aus: „Das einige Deutschland ist ein periodisch
wiederkehrender Traum des deutschen Michel, der in Versen vortrefflich, in
Prosa schlecht und in der Praxis nirgends an seinem Platze ist. Das einige
Deutschland ist ein Hohn der Dänen, die Schadenfreude Englands. Aus
Versehen ist Deutschland einig gewesen vier Wochen
lang; aber umsonst erschraken die Nachbarn, datz es
*) Scherr, Johannes, Germania. Zwei Jahrtausende deutschen Lebens. 6. Auflage.
Union Deutsche Nerlagsaeiellschaft, Stuttgart

NUN Ernst werden möchte. Schon lenken wir ein in
das alte zerfahrene Geleise des ewigen Zwiespalte s."
Im Herbst 1848 erhielt Theodor Mommsen seine Berufung nach Leipzig,
wo er Vorlesungen über „Abschnitte aus der römischen Geschichte" zu halten
begann. Von da an wuchs der grotze Geschichtsforscher heran, dessen „Römische
Geschichte" zu den Werken der Weltliteratur gehört. Datz er nie zum anteil-
losen Gelehrten wurde, dem die Geschicke des Vaterlandes nichts galten, be-
zeugt seine Verurteilung zur Zeit der Kämpfe um eine deutsche Verfassung;
wegen „Vorbereitung des Hochverrats" wurde er im Oktober 1850 zu neun
Monaten Gefängnis verurteilt, um im wiederaufgenommenen Verfahren am
17. Januar 1851 freigesprochen zu werden; seiner Professur in Leipzig wurde
er „enthoben". Die politischen Hoffnungen und seine persönliche Existenz waren
zerstört; eine Berufung nach Zürich sollte ihn vorläufig retten, bis er 1854 in
Preutzen, zuerst in Breslau und vier Jahre später in Berlin, wieder eine Stätte
fand für seine unermetzliche Arbeitskraft. Ein herrliches Bekenntnis des großen
deutschenHistorikers über denWert
der geschichtlichen Erkenntnis lau-
tet: „Die Geschichte ist auch eine
Bibel, und wenn sie so wenig wie
diese weder dem Toren es wehren
kann, sie mitzzuverstehen, noch dem
Teufel, sie zu zitieren, so wird auch
sie imstande sein, beides zu ertragen
wie zu vergüten." Noch ein ande-
res beherzigenswertes Bekenntnis
Mommsens soll nicht fehlen: „Ge-
schichte wird weder gemacht noch
geschrieben ohne Hatz und Liebe."
einrich v. Sybel, am 2. De-
zember 1817 geboren, ent-
stammte einem altbürgerlichen Ge-
schlecht, Kaufleute und Theologen
waren seine Vorfahren; sein Vater
war als Verwaltungsbeamter 1831
in den erblichen Adelstand erhoben worden. Der Jugend Sybels in einem wohl-
habenden Hause blieben schwere Kämpfe erspart, und er konnte, kaum siebzehn Jahre
alt, die Universität zu Berlin beziehen, wo vor allem Ranke sein verehrter Lehrer
werden sollte. Schon 1838 schloß Sybel seine Studien ab, um im Herbst 1840 seine
Vorlesungen als Dozent der Bonner Universität zu beginnen und eine reiche
schriftstellerische Tätigkeit zu entfalten. Auch er entwickelte sich unter dem Druck
und der Erhebung der schweren politischen und nationalen Kämpfe Deutsch-
lands zu dem großen Historiker, der bedeutsam auf seine Zeit wirkte, denn auch
er forderte von den Geschichtschreibern seiner Zeit nicht nur fachliche Kenntnisse,
sondern ein „politisches und nationales Gewissen". Nach
seiner Überzeugung darf niemand seine Gedankenarbeit
von den großen Aufgaben seines Volkes ab lösen. Die
Ereignisse des Jahres 1848 brachten ihn in das Frank-
furter Vorparlament, in dessen linken Flügel; seine
Kampfschrift gegen das Hassenpflugsche Regiment brachte
ihn 1850 vor Gericht. Er wurde freigesprochen und zog
sich zu wissenschaftlicher Tätigkeit zurück. Er selbst be-
kannte später, daß der Sturm der revolutionären Jahre
seine geschichtliche Forschung auf andere als die anfäng-
lich begangenen Wege trieb: „Die Radikalen von 1848
zeigten vielfach sozialistische Tendenzen; mir kam der
Gedanke, eine Broschüre zu schreiben, in der gezeigt
würde, welche Folgen solche Dinge in der französischen
Revolution gehabt." Aus dieser Broschüre wurde Sybels
berühmtes fünfbändiges Werk, an dem er fast dreißig
Jahre arbeitete, die „Geschichte der Revolutionszeit von
1789 bis 1800", das in fast alle europäischen Sprachen
übersetzt wurde. Er zerstörte damit die Legenden von
den Ideen der großen Revolution von 1789, und setzte
den dichterischen Schilderungen durch Studien aus den
Archiven zu Paris, Wien, London und Berlin die ge-
schichtliche Wahrheit entgegen. Die großen französischen Historiker der Revo-
lution, Corel und Taine, nahmen stillschweigend oder offen ausgesprochen Sybels
Ansichten zu einem guten Teile aus. Das große Werk war ebensosehr eine
politische Tat wie eine wissenschaftlich epochemachende Leistung; politisch deshalb,
weil durch das Mißverstehen der Revolution eine verhängnisvolle Verwirrung
selbst in den besten Köpfen entstanden war. Nach Caros Urteil wirkte Sybels Werk
„überall klärend, mäßigend und kräftigend. Wie aber die wahren Segnungen
der französischen Revolution am spätesten und am spärlichsten dem französischen
Volke selbst zustatten kamen, so bildete sich dort erst in unseren Tagen eine kleine
Gemeinde, welche voll Scham und Selbstqual die Nichtigkeit der einstigen Ideale
zugesteht und sich offen oder schweigend dem Ergebnis deutscher Forschung
unterwirft". Das gallische „Weltheilandtum" und der „Falstaffruhm" des Re-
volutionsheldentums verblaßte durch Sybels strenge Forschung. Nach Gustav
Freytags Worten wirkte er damit erzieherisch auf die deutsche Nation, aus deren
politischem Ideengehalt er den uns fremden französischen Radikalismus auszu-
scheiden beitrug. Und Bismarck konnte ihm zum fünfzigsten Doktorjubiläum „für
seine langjährige Mitarbeit an dem gemeinsamen vaterländischen Werke danken".


Heinrich v. Sybel.

Johannes Scherr.


Theodor Mommsen.
 
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