Das Erbe der Kalewingen.
Roman aus dem estnischen Volksleben
von Richard Schott.
(Fortsetzung.)
ohltaten nennst du es?" rief Arrvi. „Ich meine, daß die
Herren damit nicht mehr tun als ihre Schuldigkeit! Ist es
eine Schande, den Hemdschilling zu verlangen, wenn
zwei sich heiraten wollen, und ihnen eine Abgabe abzupressen, die
diese Hunde von Verwaltern schlucken? Ist es nicht eine Schmach,
den Sterbfall zu erheben und einer Witwe das bißchen Habe wieder
fortzunehmen, das der Verstorbene in schwerer Arbeit sich zusammen-
gerafft hat? Es ist höchste Zeit, daß diese Schuftereien aufhören."
„Du redest gefährliche Dinge," sagte der Bote, sich scheu um-
sehend. „Wenn du nicht ein Sohn vom gnädigen Herrn wärst,
ließen sie dir so was nicht durchgehen. Aber die Sonne kommt
herauf, und ich muß heute noch nach Reval. Weißt du schon, daß
sie den Jeglechter Baron neulich erstochen haben? Ein Weib hat's
getan, eine rothaarige, polnische Here, die alle Männer verrückt
machen soll, die sie bloß ansehen. Das ist eine böse Geschichte.
Die muß ich dir noch erzählen. Der Jeglechter reist nach Warschau
und fängt da eine Liebschaft an. Daß er eine Frau zu Hause hat,
sagt er natürlich nicht, und weil er der Polnischen die Ehe versprochen,
läßt sie den Fisch nicht wieder aus dem Netz und fährt mit nach Reval.
Eine Weile geht das denn auch ganz gut. Da kommt eines Tags
die gnädige Frau aus Petersburg, riecht den Braten und schmeißt
die Polnische aus dem Haus. Die läßt sich das aber nicht gefallen,
lauert dem Baron auf und stößt ihm das Messer in den Hals. Es wird
ihr der Prozeß gemacht, und am letzten Montag soll sie auf dem
Domplatz den Revalern die Zunge rausstrecken. Als sie der Schinder
aus dem Turm holen will, ist der Vogel ausgeflogen und der Stock-
knecht gleich mit. Hat sie den Mann doch auch behert, die rote
Kanaille! Das wird wieder eine schlimme Jagerei geben durchs
Land, bis wir die Durchbrenner eingefangen haben. Wenn sie dir
begegnen, kannst du dir ein schönes Stück Schergengeld verdienen!"
Damit ließ er sein Pferd antraben und war gleich darauf in einer
Staubwolke verschwunden.
()ur Zeit, als die Deutschordensritter vor mehr als einem halben
^Jahrtausend mit dem Kreuz auch die Kultur nach den unwirt-
lichen Gestaden des Finnischen Meeres brachten, fand der Bauer
auf der weiten Ebene zwischen Düna und Narowa nur wenig
Arbeit für den Pflug. Gewaltige Moräste, unbetretbar für den
menschlichen Fuß, zogen sich viele Meilen weit durch das Land,
und auf den moorfreien Feldern lagen, wie von Riesen gesät, mächtige
Steinblöcke, an denen das beste Eisen der Pflüge zuschanden ward.
Seitdem hatten Menschengeist und Menschenhände der spröden
Natur manchen Fleck Erde abgerungen. Die Moräste lagen wohl
fast überall noch da in der traurigen Einöde; die Fluren aber waren
zum großen Teil von erratischen Blöcken gesäubert. Und da, wo
einst Hanf und Gerste nur hin und wieder ein karges Plätzchen für
ihre Wurzeln fanden, standen nun üppige Roggenfelder und Hafer-
Kronprinz Georg von Sachsen. Herzogin Marie Amelie von Württemberg.
XXIV. 1918.