Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Heft 2S

aus. „Ich will nichts davon wissen. Behalten Sie die Briefe. Ich
will nichts damit zu tun haben."
Mit langsamer, bedächtiger Bewegung legte Rechnungsrat Henge
das Päckchen auf den zwischen ihm und der jungen Frau stehenden
Tisch. „Ich kann mir nicht mehr anders helfen. Was sollte es auch
nützen? Ich weiß nicht, was mich dazu trieb, vor Ihnen so zu sprechen."
Er stockte und schien völlig verwirrt und ratlos. Als ob er sich
abermals zu rechtfertigen hoffte, begann er mit eiliger Hast: „Es sind
Briefe, die Ihr Mann nach seiner Abreise von Frankenhagen an meine
Tochter schrieb. Sie betrachtete sich damals als seine Verlobte, ohne
daß ihre Mutter und ich etwas davon wußten. Wir sahen es wohl, daß
ein freundliches Verhältnis zwischen beiden bestand, und es mag sein,
daß meine Frau eine Werbung erwartete, aber meine Tochter sagte
kein Wort darüber. Wir hielten Herrn Horstmar für einen Ehrenmann,
und als er fortging, ohne etwas zu äußern, glaubten wir bestimmt, daß
zwischen ihm und Johanna nichts geschehen sei. Erst diese Briefe
bewiesen mir, daß beide sich liebten. Seit ich sie gelesen habe, weiß

S8S

ihres Mannes. Es fiel ihr auf, daß die Blätter nicht nach dem Zeit-
punkt ihrer Entstehung geordnet waren. Der unglückliche Vater
mochte sie in seiner Erregung beim Lesen durcheinander gebracht
haben. So war es wohl gekommen, daß der zuletzt geschriebene ihr
nun zuerst in die Hände fiel. Er trug das Datum eines Tages, der
kaum zwei Wochen vor ihrem Verlöbnis mit Paul Horstmar lag,
und er begann: „Daß Du mir mein Wort und meine Freiheit zurück-
gibst, um, wie Du mir geschrieben hast, durch Deine Armut meinem
Glück nicht hinderlich zu sein, ist wohl die tiefste Beschämung, die
einem Mann widerfahren kann. Blutenden Herzens bin ich ge-
zwungen, Dein großmütiges Opfer anzunehmen. Ich sehe keinen Weg
mehr, der zu unserer Vereinigung führen könnte. Ein mittelloser Archi-
tekt — und darüber täuschte ich Dich nie, daß ich mittellos bin — hat
keine Aussichten, es vorwärts zu bringen. Ich aber will und muß
meinen Fähigkeiten die Bahn öffnen. Mich erfüllt der Ehrgeiz, Großes
zu leisten und an erster Stelle zu wirken. Dazu ist Geld nötig, viel
Geld. Und ich vermag es mir nur durch eine reiche Heirat zu be-

DasBuchfüvAll§


Deutsche Fliegeraufnahme von
ich gewiß, daß meine Tochter an gebrochenem Herzen dahinsiechte.
Sie war nicht stark genug, ihren heimlichen Kummer zu überwinden;
sie ging an ihm zugrunde."
Der eintönig klagende Ton der alten Männerstimme bereitete
Elfriede unerträgliche Qual. Kaum hörbar flüsterte sie: „Nehmen
Sie die Briefe mit, ich will sie nicht lesen." x
Einen Augenblick stand Rechnungsrat Henge unbeholfen. Seine
Lippen Zitterten, als er sagte: „Ich kann die Briefe nicht mehr nehmen.
Es ist zu spät. Leben Sie wohl."
Die junge Frau hörte, wie er mit schleppenden Schritten der Tür
zuging. Dann hörte sie das Schloß zufallen. Sie war allein.
Minutenlang blieb sie unbeweglich, unter dem bangen Druck, daß ihr
unsäglich Trauriges erst noch vorbehalten sei, sobald die Erstarrung sich
löste.' Sie schloß die Augen und stand mit schlaff hängender: Armen, als
vermöge sie durch körperliche Ruhe auch das Denken zu verhindern.
Der Klang eines Hellen Kinderstimmchens durchbrach die Stille;
jäh schrak sie empor. Und ihr erster klarer Gedanke war, daß es
nicht möglich sein konnte, daß er glücklich gewesen sei, indes eine
andere an seiner Treulosigkeit dahinstarb. Sie ertrug den Vorwurf
nicht, daran glauben zu müssen, daß er um seine Schuld gewußt
habe. Die Briefe lagen ja noch da. Ihr Inhalt mußte ihn recht-
fertiaen. Triebhaft, mit einer unklaren Empfindung aufkeimender
Hoffnung griff sie nach den Blättern und erkannte die Handschrift

Chateau-Thierry an der Marne.
schaffen. Ich weiß, daß Du mich wegen dieses Geständnisses verachten
wirst, denn ihr Frauen könnt alles nur mit dem Herzen erfassen. Aber
ganz so schlecht, als es Dir scheinen mag, bin ich nicht. Ich habe Dich
nicht gebeten, mich freizugeben, und ich hätte es nie getan. Wenn
Du aus meinen letzten Briefen den Eindruck gewonnen hast, daß die
Fessel mich bedrückte, so war es doch nicht meine Absicht, diese Empfin-
dung in Dir hervorzurufen. Nun erst, da Du selbst das befreiende
Wort gesprochen, wäre es ehrlos, Dich länger zu belügen..."
Elfriede legte das Blatt fort und griff nach einem anderen. Der
Brief war einige Monate älter; Horstmar mußte ihn geschrieben
haben, bald nachdem er aus Frankenhagen in die Hauptstadt über-
gesiedelt war. Er begann mit der Anrede: „Meine geliebte Braut!"
Die letzten Sätze lauteten: „Fürchte nicht, mein Liebling, daß ich Dir
untreu werden könnte, trotzdem es an Versuchungen nicht fehlt. Ich
lernte eine hübsche junge Dame kennen, deren Vater mich gleich nach
meiner Ankunft in sein Haus zog, und die mir bei jedem meiner Be-
suche immer unmißverständlicher zu verstehen gibt, daß ich ihr nicht
gleichgültig bin. Auch die Familie bemüht sich, mir zu zeigen, daß
man eine Verbindung nicht ungern sehen würde. Daß sie für mich
von ungeheurem Vorteil sein könnte, unterliegt keinem Zweifel;
der Vater des Mädchens ist nicht nur ein sehr reicher Mann, er ver-
fügt auch durch seine Stellung über Verbindungen, deren kluge Aus-
nützung mich rasch zu einem der gesuchtesten Baumeister machen

LXV 1918.
 
Annotationen