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632

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Heft 27

„Was willst du von mir, Unglücklicher? Weißt du nicht, daß ihr
verfemt seid?"
„Das kann ich mir denken. Aber ich denke mir auch, daß Gott
sein Haus für jeden offen hält, der nach seinem Trost verlangt."
„Ihr kommt mit eurem Anliegen zu Gott und nicht zu mir?"
„Ja. — Wir sind Brautleute."
„So tretet denn ein, und der Herr segne eueren Eingang."
Weinend schmiegte Maila sich dichter an Arwi an; er zog sie an
sich und führte sie über den Hof.
Der Pfarrer verriegelte das Tor wieder und geleitete sie mit der
Kienfackel bis zur Haustür. Hier sagte er: „Wartet hier. Über
meine Schwelle dürft ihr nicht treten, aber Gottes Haus ist eine
Freistatt. Ich will den Schlüssel zur Kirche holen."
Dann ging er in das Haus und nahm den Schlüssel vom ge-
wohnten Ort neben dem Arbeitspult. Der alte Herr war vor Er-
griffenheit so verwirrt, daß er ihn lange nicht finden konnte. Als
er wieder heraustrat, sah er, daß Arwi neben dem Weibe am
Boden kniete.
„Was ist mit ihr?" fragte er erschreckt, das bleiche, eingefallene
Gesicht der Ohnmächtigen bemerkend.
„Sie ist krank," antwortete Arwi. „Aber sie war schon öfter so
elend. Wenn ich einen Schluck Wasser für sie haben könnte."
Einen Augenblick stand der Pfarrer im Zweifel. „Es steht Tod
darauf," sagte er dann entschlossen. „Aber Menschenpflicht geht
über Menschengesetz. Trage sie hinein."
In seiner Kammer bereitete er ihr ein Lager, hüllte sie in warme
Decken, rieb ihr die Schläfen mit Branntwein und netzte ihre Lippen,
bis das stockende Leben sich wieder zu regen begann. Sie versuchte
die Augen zu öffnen, war aber zu erschöpft dazu und versank gleich
darauf in Schlaf.
Eine Zeitlang lauschten die beiden Männer auf ihren Atem,
der leise, aber gleichmäßig ging. Dann nahm der Pfarrer Arwi bei
der Hand und ging mit ihm in die benachbarte Arbeitstube, hieß ihn
sich auf einen Schemel neben dem Schreibpult setzen und ließ sich in
seinen Lehnstuhl nieder. Lange saßen sie schweigend. Es war so
still im Zimmer, daß man neben dem Ticken der Uhr das Knuspern
der Mäuse und das Atmen der Kranken aus der Nebenstube hören
konnte. Nur zuweilen mischte sich das Heulen des Nordwindes und
das Knarren der Fensterladen in diese geheimnisvollen Geräusche.
Endlich erhob sich der Pfarrer wieder, horchte einige Zeit an der
Kammer, schloß dann, nachdem er sich überzeugt hatte, daß die
Kranke ruhig schlief, die Tür wieder, ging auf Arwi zu, legte beide
Hände auf seine Schultern und sagte, ihn mit vorwurfsvollen und
doch unendlich gütigen Augen anschauend: „Arwi, mein lieber Sohn,
was hast du getan?"
„Was ich mußte, ehrwürdiger Herr!" antwortete Arwi, ohne den
Blicken auszuweichen. Die letzten Stunden hatten ihm die frühere
Sicherheit wiedergegeben. Mailas unerschöpfliche Güte hatte alle
Flecken aus seiner Seele getilgt. Die große Liebe, die ihr die Kraft
verliehen hatte, sich selbst zu überwinden und ihm zu verzeihen, hatte
ihm den Weg gewiesen. Es war ein anderer Weg als der, den er
bisher verfolgte, aber er wußte, daß er der rechte war.
Nach einer Weile fuhr der Pfarrer fort, ohne die Hände von
Arwis Schulter zu nehmen. „Ich weiß, daß kein Falsch in dir ist,
und daß die Absicht rein war. Aber auch der Schnee fällt rein vom
Himmel und wird doch schmutzig, wenn der Mensch darauf tritt."
„Wenn des Menschen Fuß rein ist, wird der Schnee nur fest
und nicht schmutzig, ehrwürdiger Herr."
„Aber des Menschen Fuß ist nicht rein, Arwi."
„Warum nicht? Wenn alles so geblieben wäre, wie Gott ihn ge-
schaffen hatte! Erst die Knechtschaft hat ihn unrein gemacht."
„Es gibt eine Knechtschaft, die aus uns selbst entspringt. Der
schlimmste Tyrann ist das eigene Fleisch."
„Ja, so sagen die, die uns beherrschen. Aber ich weiß, daß es
nicht wahr ist. Wer wirklich frei ist, kriegt sein Fleisch schon unter. -
Wer aber immer nach der Knute schielt, der wird feige und schlecht.
Gebt uns Freiheit, und wir werden rein und gut werden."
„Das sind mißverstandene Phantastereien!" entgegnete der
Pfarrer. „Das ist Selbstüberschätzung," fuhr er nach einer Weile
fort, „den Menschen gelingt nichts aus sich selbst ohne die Gnade
Gottes. Das sind Zügellose Gedankenspielereien eines unreifen
jungen Menschen, der sich selbst ebensowenig kennt wie die Welt."
Er hatte Arwi losgelassen und ging erregt im Zimmer auf und ab.
„Mit diesen Worten hast du dich ins Unglück gestürzt und deine Ge-
fährten toll gemacht." (Schluß

Die 'Probe.
Erzählung von Emma Haushofer-Merk.
m sieben Uhr, wenn Christian Schroffensteiner den Post-
schalter schließen und den Dienstrock an den Nagel hängen
durfte, führte ihn sein Weg an einem kleinen Hause mit
einem wohlgepflegten Vorgärtchen vorüber, in dem sich um diese
Zeit meist ein schlankes, blondes Mädchen mit ihren Blumen be-
schäftigte. Er blieb dann eine Weile stehen, um dem hübschen
Fräulein Rosine einen guten Abend zu wünschen, und sie tauschten
ein paar heitere Worte. Wenn das blonde Mädchen lachte, erschienen
Grübchen in ihren Wangen, und die weißen Zähne blitzten wie ihre
fröhlichen Augen.
Häufig schaute Christian hinauf zu der Altane im ersten Stock,
um die sich rote Kletterrosen schlangen, auf der ein junges Ehepaar
beim Abendessen saß. Wie schön müßte es doch sein, dachte er,
wenn er da oben wohnen könnte mit einer blonden Frau, die ihm
mit Grübchen in den Wangen zulachen würde, wenn er heimkäme!
Aber von diesen sehnsüchtigen Gedanken durfte er dem jungen
Mädchen leider nichts verraten, denn er verfügte ja nur über ein
bescheidenes Einkommen, und Rosine war die Tochter einer von
ihrer Pension lebenden Lehrerswitwe, die wohl außer dem kleinen
Haus kein Vermögen besaß. Da war es besser, solche Gedanken und
Wünsche nicht besonders zu hegen, und mit Zukunftsträumen, die
unerfüllbar bleiben mußten, sich das Herz zu beschweren.
Als er an einem schönen Sommerabend durch die duftende
Lindenanlage ging, erblickte er Bekannte, die ihm entgegenkamen:
Frau Grubhofer und ihre Tochter Frida, die beide hübsche Helle
Kleider trugen. Er hatte auf den Bällen der „Harmonie" mit dem
jungen Fräulein getanzt und es sich zur Ehre gerechnet, denn sie war
das gefeiertste Mädchen in der kleinen Stadt, die einzige Tochter des
Kaufmanns Grubhofer, dem das erste Geschäft am Platze und ein
neues dreistöckiges Haus in der Hauptstraße gehörte. Bisher war
Frida immer etwas hochmütig und steif gewesen, und er wollte
auch nur mit höflichem Gruße vorübergehen. Zu seiner Über-
raschung blieben die beiden Damen stehen.
„Wie geht es Ihnen, Herr Sekretär?" fragte die Mutter freund-
lich. „Lassen Sie sich doch einmal bei uns sehen! Vielleicht an
einem Sonntagnachmittag? Mein Mann würde sich gewiß freuen."
„Ach ja! Kommen Sie doch einmal!" bat auch Frida mit ver-
schämtem Erröten.
Christian setzte, nachdenklich gestimmt über diese Einladung,
seinen Weg fort. Was bedeutete das? Hatte Frida ihr Herz an ihn
verloren? Es gab allerdings nicht viele junge Männer im Städtchen,
und er selbst durfte sich ja ohne Eitelkeit sagen, daß er mit seiner
großen, schlanken Gestalt und seinem frischen Gesicht nicht übel aus-
sah. Er begann sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, der
Schwiegersohn von Kaufmann Grubhofer werden zu können.
Als er seinen Besuch machte, wurde er zum Bleiben aufgefordert.
Frida spielte Klavier und sang ein paar Lieder; man gab sich alle
Mühe, den Gast zu unterhalten. Allerdings die Mutter führte das
große Wort, und Frida nickte nur oder stimmte ihr eifrig zu.
An dem kleinen Haus mit dem Vorgärtchen ging Christian seit-
dem mit flüchtigem Gruße vorüber. In seinem Herzen fühlte er
dann einen leisen Schmerz wie einen mahnenden Vorwurf, als
begehe er ein Unrecht gegen Rosine, die mit so liebem Vertrauen
zu ihm aufgeschaut hatte. Aber diese Empfindungen verloren sich
bald. Wegen einiger freundlicher Blicke war man doch noch keine
Treue schuldig geworden. Und dann war er sich ja doch zuvor schon
klar darüber geworden, daß eine weitere Annäherung, die ja doch
zu nichts führen konnte, unrecht sei. Zweimal hatte Rosine ihm ver-
wundert nachgeblickt. Ihr sonst so heiteres junges Gesicht verdüsterte
sich mit einem Ausdruck tiefer Enttäuschung. Aber dann schüttelte sie
trotzig den Kopf; sie entschloß sich, von nun an nie wieder um sieben,
wenn der Postbeamte vorüberkam, sich im Garten blicken zu lassen.
Als Christian Schroffensteiner eines Abends seinen Stammtisch
im „Löwen" aufsuchte, wurde er mit freudigen Glückwünschen emp-
fangen. Betroffen blickte er die Kameraden an. Man konnte in
dem Klatschnest doch nicht schon erfahren haben, daß er bei Erub-
hofers eingeladen worden war. Als er wissen wollte, wozu man
ihn beglückwünschte, fragte man, ob er den Aufruf in der Zeitung
nicht gelesen Habs. Man reichte ihm das Blatt und er las: „Erben
gesucht. Am 8. September 1917 ist der früher in der Schweiz
 
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