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(Schluß.)

Das Erbe der Kalewingen.

Dem Eindruck eines gemeinsam unternommenen Schrittes werde sich
auch der noch widerstrebende Teil der Ritterschaft nicht entziehen
können. Er glaube daran, daß der Tag der Befreiung von menschen-
unwürdiger Bedrückung, den er ebenso heiß ersehne wie Arwi, nahe
sei. Aber gerade deshalb müsse man sich vor übereilten Schritten
hüten. Mit der Macht des Wortes werde man den neuen Gedanken
zum Siege führen. Gewaltsame Auflehnung aber sei sündhaft und straf-
würdig, und in diesem Falle würden sie ganz gewiß alles verderben.
Düster vor sich hinbrütend, hörte Arwi dem Alten schweigend zu.
Als der Pfarrer das letzte Wort gesprochen, sagte er: „Du meinst es
gut, ehrwürdiger Herr. Aber uns kann das nicht mehr nützen. Wir
müssen uns doch selber helfen, und ich weiß, was ich zu tun habe."
Damit ging er zu Maila, die aufgewacht war, in die Kammer,
während der Pfarrer mit trauriger Miene aufstand, um den Schlüssel
zur Kirche zu holen. _

Kronprinz Rupprecht von Bayern und seine Braut, Herzogin Antonia
von Luxemburg.
Phot. Franz Gramer, München.

werden, denn die Welt steht nicht still." Arwis Stimme zitterte,
und seine von den inneren Kämpfen der letzten Tage durchgeistigten
Augen leuchteten in fast überirdischem Glanze.
Ergriffen sah der Pfarrer ihn an. Ähnliche Gedanken hatten auch
ihn einst beseelt, als das Leben noch vor ihm lag, das unerbittliche
Leben, das auf unsere idealen Forderungen mit Hohn antwortet
und uns so bescheiden macht — ach! — so bescheiden!
„Arwi, mein lieber Sohn!" sagte er endlich erschüttert. „Warum
hörte der gnädige Herr
nicht auf mich, als ich ihn
bat, dich in die weite Welt
zu schicken, wo deine Be¬
gabung und deine Tatkraft
sich hätten entfalten kön¬
nen! Dem besten Baum
in seinem Walde hat er
das Leben abgegraben; der
edelsten Frucht in seinem
Gartenhat er die Reife ver¬
sagt. Aber ich will nun da¬
für sorgen, daß ihm noch
rechtzeitig die Augen auf¬
gehen, daß er noch lernen
wird, mit dem Pfund zu
wuchern, das Gott ihm in
den Schoß geworfen hat!"
Trotz aller Nackenschläge
eines langen, im Grunde
doch ergebnislosen Lebens
war Pantenius ein unver¬
besserlicher Optimist ge¬
blieben ; in seiner Güte und
Vertrauensseligkeit zwei¬
felte er keinen Augenblick
daran, daß sich noch alles
wieder gut machen lassen
müsse. Er selbst wollte mit
dem gnädigen Herrn reden,
um für Arwi Verzeihung
zu erwirken. Das Volk
werde sich dann wieder
beruhigen und die Ritter¬
schaft vielleicht aus den
Vorgängen in Kostifer die
Lehre ziehen, daß den bis¬
herigen Zu ständen ein Ende
bereitet werden müsse, daß
es Zeit sei, die Leibeigen¬
schaft aufzuheben. Noch
heute wolle er ein ein¬
dringliches Schreiben an
die Ritterschaft aufsehen
und seine Amtsbrüder auf¬
fordern, das gleiche zu tun.

Roman aus dem estnischen Volksleben
von Richard Schott.

Vor dem Altar der alten Kirche zu St. Brigitten kniete Maila
in inbrünstigem Gebete. Mit glücklichem Wohlgefühl sog sie den
langentbehrten Duft der
Wachskerzen ein, die der
Pfarrer auf dem Altar an-
gezündet hatte, bevor er
in die Sakristei gegangen
war, um sich zum heiligen
Werk vorzubereiten.
Geheimnisvoll beweg-
ten sich in dem durch die
Flammen erzeugten Lust-
strom die alten Ritterfah-
nen, die als Geschlechter-
wahrzeichen an den plum-
pen, sechseckigen Holzpfer-
lern über dem Altar , auf-
gehängt waren. Draußen
zog der Wind, der rauhe
Nordwind, seine gewalti-
gen Register. Im Gottes-
haus war es so still, daß
man das Geflüster von
Mailas Lippen vernahm,
wenn sie betete. Der Mond
schien durch die kleinen,
blinden Kirchensenster und
umspielte wie mit einem
Glorienschein ihr blondes
Haar.
Schweigend stand Arwi
neben ihr und versuchte
zu beten. Immer wieder
schweiften seine Gedanken
nach Kostifer hinüber oder
nach Reval, wo sich mor-
gen die Ritterschaft zur Ta-
gung versammeln würde.
Da kam der Pfarrer
aus der Sakristei zurück.
Er hatte den Talar ange-
legt und trug Hostie und
Abendmahlskelch in den
Händen. Die heilige Hand-
lung begann. An sein Ge-
spräch mit Arwi anknüp-
fend, sagte der alte Herr
nur wenige schlichte Worte:

du mich nicht selbst solche Gedanken gelehrt, ehrwürdiger
Herr? Und ich danke dir dafür. Warum sollen es die anderen
nicht gleichfalls erfahren? Und einmal müssen sie ja doch frei
 
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