Ely
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Craudens Kapelle stehen die Dienste vor der Wand und zeigen dadurch, daß
sie die gliedernden Hauptteile des Aufrisses sind. Die Wand als Füllung der
Fläche zwischen den Diensten könnte fehlen, weil das Dienst-System seiner Idee
nach für sich besteht. Die traditionelle Wandhaftigkeit des Aufrisses der eng-
lischen Architektur des 13. Jahrhunderts ist hier in ein Gliedersystem verwandelt,
das die Wand völlig negiert69. Daher stehen die Tabernakel nicht vor der
abschließenden Wand, sondern zwischen den Diensten. Glasmalerei, Wand-
malerei oder die dekorativen Tabernakel stehen im System des Aufrisses auf
gleicher Bedeutungsstufe. Das gilt nicht nur für diese Kapelle, sondern ganz all-
gemein in dieser Zeit, denn z. B. in der Marienkapelle von Ely entsprachen den
Figuren in den Nischen der Wandstreifen zwischen den Fenstern gleichgroße
Figuren in den Glasmalereien. Daher kann man im strengen Sinn bei Prior
Craudens Kapelle nicht von einer bestimmten Form des Innenraums sprechen;
der Raum ist dem Gliedersystem untergeordnet. Man könnte sich sogar diese
einschiffige Kapelle durch weitere Schiffe vergrößert denken, ohne daß das
System verändert werden müßte. Viel radikaler als in der nachklassischen Archi-
tektur von Frankreich wird hier die letzte Konsequenz aus dem Prinzip des
Gliedersystems gezogen. Die Wandhaftigkeit und Flächigkeit der englischen hoch-
gotischen Architektur ist vollkommen verdrängt worden. — Das Oktogon. —
Zur gleichen Zeit wurde dieses System der Kapelle auch auf das neue Oktogon T. 23
der Kathedrale übertragen. Erst in dessen riesigen Abmessungen wirkt es in T. 24
angemessener Weise, denn seiner Wirkung nach gehört es nicht in den Raum einer
kleinen Kapelle. Die schweren Formen der Dienste und der Dekoration brauchen
die Weite eines Großraumes. — Der Gedanke eines oktogonalen Baukörpers war
in England nicht neu. Auch in Cambridgeshire gab es achteckige Türme (Swaff-
ham Priory), aber keine vergleichbaren Innenräume70. Nur oktogonale Kapitel-
häuser können und werden mittelbar als Anregung gedient haben. Zwar haben
alle älteren Kapitelhäuser über achteckigen Grundriß eine Mittelstütze, nur in
der unmittelbar vorausgegangenen Zeit waren in South well und York Kapitel-
häuser gebaut worden, die das Gewölbe auch ohne eine solche Stütze über dem
Raum schlossen. Southwell wurde aus Stein errichtet, doch in York griff man auf
die heimische Bauweise zurück und errichtete über dem Kapitelhaus eine um-
fangreiche Holzkonstruktion. Die Konstruktion des Gewölbes in York entspricht
aber nicht der des Oktogongewölbes in Ely, auch wenn die Raumformen einander
gleichen mögen. Nikolaus Pevsner71 hat auf die sechseckige Kreuzung des Domes
69 Vgl. Jantzen, „Über die diaphane Wand“, Freiburg, 1928, p. 12: „...das Prinzip
der diaphanen Wand in gleichsam reiner Form: körperhaft plastisch geformte
Architekturglieder vor raumhaftem Grund.“
70 Webb, 1956, p. 188, nennt ein profanes Bauwerk als vergleichbares Beispiel: die
Küche im Palast des Bischofs von Chichester ist ein quadratischer Raum mit einer
offenen Balkenkonstruktion und einer zentralen Laterne (Anf. 14. Jahrhundert);
vgl. die Mönchsküche in Durham, 1366—70 (B/E Durham, p. 114).
71 B/E, Cambridgeshire, p. 281.
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Craudens Kapelle stehen die Dienste vor der Wand und zeigen dadurch, daß
sie die gliedernden Hauptteile des Aufrisses sind. Die Wand als Füllung der
Fläche zwischen den Diensten könnte fehlen, weil das Dienst-System seiner Idee
nach für sich besteht. Die traditionelle Wandhaftigkeit des Aufrisses der eng-
lischen Architektur des 13. Jahrhunderts ist hier in ein Gliedersystem verwandelt,
das die Wand völlig negiert69. Daher stehen die Tabernakel nicht vor der
abschließenden Wand, sondern zwischen den Diensten. Glasmalerei, Wand-
malerei oder die dekorativen Tabernakel stehen im System des Aufrisses auf
gleicher Bedeutungsstufe. Das gilt nicht nur für diese Kapelle, sondern ganz all-
gemein in dieser Zeit, denn z. B. in der Marienkapelle von Ely entsprachen den
Figuren in den Nischen der Wandstreifen zwischen den Fenstern gleichgroße
Figuren in den Glasmalereien. Daher kann man im strengen Sinn bei Prior
Craudens Kapelle nicht von einer bestimmten Form des Innenraums sprechen;
der Raum ist dem Gliedersystem untergeordnet. Man könnte sich sogar diese
einschiffige Kapelle durch weitere Schiffe vergrößert denken, ohne daß das
System verändert werden müßte. Viel radikaler als in der nachklassischen Archi-
tektur von Frankreich wird hier die letzte Konsequenz aus dem Prinzip des
Gliedersystems gezogen. Die Wandhaftigkeit und Flächigkeit der englischen hoch-
gotischen Architektur ist vollkommen verdrängt worden. — Das Oktogon. —
Zur gleichen Zeit wurde dieses System der Kapelle auch auf das neue Oktogon T. 23
der Kathedrale übertragen. Erst in dessen riesigen Abmessungen wirkt es in T. 24
angemessener Weise, denn seiner Wirkung nach gehört es nicht in den Raum einer
kleinen Kapelle. Die schweren Formen der Dienste und der Dekoration brauchen
die Weite eines Großraumes. — Der Gedanke eines oktogonalen Baukörpers war
in England nicht neu. Auch in Cambridgeshire gab es achteckige Türme (Swaff-
ham Priory), aber keine vergleichbaren Innenräume70. Nur oktogonale Kapitel-
häuser können und werden mittelbar als Anregung gedient haben. Zwar haben
alle älteren Kapitelhäuser über achteckigen Grundriß eine Mittelstütze, nur in
der unmittelbar vorausgegangenen Zeit waren in South well und York Kapitel-
häuser gebaut worden, die das Gewölbe auch ohne eine solche Stütze über dem
Raum schlossen. Southwell wurde aus Stein errichtet, doch in York griff man auf
die heimische Bauweise zurück und errichtete über dem Kapitelhaus eine um-
fangreiche Holzkonstruktion. Die Konstruktion des Gewölbes in York entspricht
aber nicht der des Oktogongewölbes in Ely, auch wenn die Raumformen einander
gleichen mögen. Nikolaus Pevsner71 hat auf die sechseckige Kreuzung des Domes
69 Vgl. Jantzen, „Über die diaphane Wand“, Freiburg, 1928, p. 12: „...das Prinzip
der diaphanen Wand in gleichsam reiner Form: körperhaft plastisch geformte
Architekturglieder vor raumhaftem Grund.“
70 Webb, 1956, p. 188, nennt ein profanes Bauwerk als vergleichbares Beispiel: die
Küche im Palast des Bischofs von Chichester ist ein quadratischer Raum mit einer
offenen Balkenkonstruktion und einer zentralen Laterne (Anf. 14. Jahrhundert);
vgl. die Mönchsküche in Durham, 1366—70 (B/E Durham, p. 114).
71 B/E, Cambridgeshire, p. 281.
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