IV. DER AUFRISS
1. Salisbury und Westminster
Die Entwicklung des Gewölbes im 13. und 14. Jahrhundert hat deutlich wer-
den lassen, daß die englische Gotik im Vergleich zur festländischen sehr eigene
Wege ging. Man kann gleichzeitige Bauten in Frankreich und England nicht in
die gleichen Kategorien einordnen, weil sich seit romanischer oder normannischer
Zeit in jedem Land eigene Traditionen entwickelt hatten. Diese führten in Frank-
reich zur Ausbildung der Gotik in der Ile-de-France und wirkten von dort auf
alle umgebenden Länder. Jedes nahm auf die ihm eigene Weise die Anregungen
auf, so daß im Laufe des 13. Jahrhunderts allenthalben national geprägte Ab-
wandlungen der französischen Hochgotik entstanden. Diese Tatsache wird noch
mehr als in der Entwicklung des Gewölbes in der des Aufrisses spürbar. Fran-
zösisches Vorbild und einheimische englische Tradition boten gerade für den
Aufriß grundverschiedene Voraussetzungen. Es ist also notwendig, sich über
einige Grundbegriffe der englischen und französischen Hochgotik im klaren zu
sein, um den geeigneten Ausgangspunkt für eine Untersuchung der englischen
Architektur des 14. Jahrhunderts zu finden.
In der Zeit um 1220 entstanden in England und in Frankreich die klassischen
Bauten der Hochgotik. Was Amiens für die französische Architektur bedeutet, ist
Salisbury für die englische. Man kann diese Kathedralen als Typen sehen, weil
ihre Grundriß-, Aufriß- und Gewölbeanordnungen das künstlerische Wollen
der Hochgotik am reinsten repräsentieren. Für einen Augenblick ist dort ein
Ruhepunkt in der Entwicklung architektonischer Ideen erreicht. Ein Schritt
darüber hinaus bedeutet schon den Ansatz zu Neuem. Was ist das Charakte-
ristische an diesen Bauten?
Salisbury. — Der Aufriß gliedert sich in drei horizontale Schichten, in
denen nur der gleichmäßige Rhythmus der Arkaden, Emporen und Fenster eine
Jochteilung angibt. Die horizontale Reihung der Formen ist wichtiger als über-
greifende, die Vertikale betonende Ordnungen; diese kommen nur in den unter-
teilten Bogen der Emporen vor. Durch diese Gliederung werden die einzelnen
Teile der Kathedrale, das Langhaus, die Querschiffe und der Chor, zu kasten-
artig geschlossenen, selbständigen Räumen, wie die Grundrißgliederung sie ange-
legt hatte. Die Gewölbe scheinen wie Deckel aufgelegt zu sein. — Damit ist der
grundlegende Unterschied gegenüber der gleichzeitigen Kathedrale von
Amiens beschrieben. Dort ordnen Dienste den Aufriß vertikal in ein festes,
abgestuftes System. An jeder Wand trägt je ein Dienst den Gurtbogen, je ein
Dienstpaar die Diagonalrippen, die Schildbogenrippen und schließlich, als
T. 1
1. Salisbury und Westminster
Die Entwicklung des Gewölbes im 13. und 14. Jahrhundert hat deutlich wer-
den lassen, daß die englische Gotik im Vergleich zur festländischen sehr eigene
Wege ging. Man kann gleichzeitige Bauten in Frankreich und England nicht in
die gleichen Kategorien einordnen, weil sich seit romanischer oder normannischer
Zeit in jedem Land eigene Traditionen entwickelt hatten. Diese führten in Frank-
reich zur Ausbildung der Gotik in der Ile-de-France und wirkten von dort auf
alle umgebenden Länder. Jedes nahm auf die ihm eigene Weise die Anregungen
auf, so daß im Laufe des 13. Jahrhunderts allenthalben national geprägte Ab-
wandlungen der französischen Hochgotik entstanden. Diese Tatsache wird noch
mehr als in der Entwicklung des Gewölbes in der des Aufrisses spürbar. Fran-
zösisches Vorbild und einheimische englische Tradition boten gerade für den
Aufriß grundverschiedene Voraussetzungen. Es ist also notwendig, sich über
einige Grundbegriffe der englischen und französischen Hochgotik im klaren zu
sein, um den geeigneten Ausgangspunkt für eine Untersuchung der englischen
Architektur des 14. Jahrhunderts zu finden.
In der Zeit um 1220 entstanden in England und in Frankreich die klassischen
Bauten der Hochgotik. Was Amiens für die französische Architektur bedeutet, ist
Salisbury für die englische. Man kann diese Kathedralen als Typen sehen, weil
ihre Grundriß-, Aufriß- und Gewölbeanordnungen das künstlerische Wollen
der Hochgotik am reinsten repräsentieren. Für einen Augenblick ist dort ein
Ruhepunkt in der Entwicklung architektonischer Ideen erreicht. Ein Schritt
darüber hinaus bedeutet schon den Ansatz zu Neuem. Was ist das Charakte-
ristische an diesen Bauten?
Salisbury. — Der Aufriß gliedert sich in drei horizontale Schichten, in
denen nur der gleichmäßige Rhythmus der Arkaden, Emporen und Fenster eine
Jochteilung angibt. Die horizontale Reihung der Formen ist wichtiger als über-
greifende, die Vertikale betonende Ordnungen; diese kommen nur in den unter-
teilten Bogen der Emporen vor. Durch diese Gliederung werden die einzelnen
Teile der Kathedrale, das Langhaus, die Querschiffe und der Chor, zu kasten-
artig geschlossenen, selbständigen Räumen, wie die Grundrißgliederung sie ange-
legt hatte. Die Gewölbe scheinen wie Deckel aufgelegt zu sein. — Damit ist der
grundlegende Unterschied gegenüber der gleichzeitigen Kathedrale von
Amiens beschrieben. Dort ordnen Dienste den Aufriß vertikal in ein festes,
abgestuftes System. An jeder Wand trägt je ein Dienst den Gurtbogen, je ein
Dienstpaar die Diagonalrippen, die Schildbogenrippen und schließlich, als
T. 1