Curvilinear-Maßwerk
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5. Das Curvilinear-Maßwerk und die Tabernakelnische
a) Stand der Forschung
Der Norden und Osten Englands waren im 14. Jahrhundert Zentren des
Curvilinear-Maßwerks. Die großen West- oder Ostfenster in Carlisle, Selby
oder York sind zu Recht berühmte Beispiele dieser “flowing tracery”. Mehr als
in den Landschaften des Südwestens oder Westens entstand oder verwirklichte
sich dort diese Maßwerkkunst vor allem in der großen Zahl der Pfarrkirchen.
Zwar besitzt dort keine Kathedrale in vergleichbarer Fülle und Verschiedenheit
Curvilinear-Maßwerk, wie Exeter ein Kompendium des geometrischen Maß-
werks ist. Der Reichtum der Ideen läßt sich am besten in dem Fenstermaßwerk
der kleineren oder größeren Pfarrkirchen und im blinden Maßwerk an Lettnern
oder andern Ausstattungsstücken fassen. Das große Westfenster von York oder T. 31,44
das Ostfenster von Selby sind nur ins Monumentale übertragene Beispiele,
kleinere oder bescheidenere Formen lassen sich überall im Nordosten finden. —
Der große Unterschied gegenüber dem südwestlichen Maßwerk in Wells oder
auch gegenüber Gloucester liegt vor allem darin, daß im Curvilinear-Maßwerk
bestimmte Formen sich unabhängig von einem bestimmten Aufrißtyp ganz frei
entfalten. Das Curvilinear-Maßwerk kann sich wie ein Spiel der Phantasie in
jeder Fläche entfalten. Es ist unabhängig und entspricht gerade darin den be-
sonderen Bedingungen der Pfarrkirchen, denn in diesen ist oft das Maßwerk die
einzige Dekoration. Daher fehlen meist Basen und Kapitelle, die äußeren
Zeichen einer Abhängigkeit vom Aufriß, oder, wenn sie angegeben werden, ge-
schieht es nur aus Tradition, ohne rechte innere Bedeutung. Diese Art des Maß-
werks gleicht, darin dem Dekorationsstil des Hofes. In der künstlerischen
Gestaltung sind beide allerdings weit getrennt. —
Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben Freeman und
Sharpe versucht, die Vielfalt der Maßwerkformen in ein Schema zu bringen.
Genau wie fast hundert Jahre später Behling (1944) wollten sie den Reichtum
der Formen auf eine begrenzte Anzahl von Grundformen — Behling nennt sie
Urbilder — zurückführen und dann im Wandel der Grundformen den Lauf
einer Entwicklung aufzeigen. Man ging sogar so weit, nach den beschreibenden
Bezeichnungen der Maßwerkformen die einzelnen Stilepochen zu benennen.
“Curvilinear” oder “geometrical” sind solche Namen. Freemans System
ist sehr weitläufig und teilt die Maßwerkformen in eine große Anzahl von For-
mengruppen ein. Behling dagegen stellt für die Entstehung des Curvilinear-
Maßwerks nur drei Prinzipien fest. Ihr zufolge wären die verschiedenen Formen
„1. durch Stauchung, 2. durch Streckung (strahlenartige Zerdehnung), 3. durch
Vermehrung oder Verminderung der Anzahl gleichgeordneter Flächenglieder“
zu erklären39. Zwickelblase und Fischblase sind die beiden Hauptmotive, die
39 Behling, 1944, p. 33.
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5. Das Curvilinear-Maßwerk und die Tabernakelnische
a) Stand der Forschung
Der Norden und Osten Englands waren im 14. Jahrhundert Zentren des
Curvilinear-Maßwerks. Die großen West- oder Ostfenster in Carlisle, Selby
oder York sind zu Recht berühmte Beispiele dieser “flowing tracery”. Mehr als
in den Landschaften des Südwestens oder Westens entstand oder verwirklichte
sich dort diese Maßwerkkunst vor allem in der großen Zahl der Pfarrkirchen.
Zwar besitzt dort keine Kathedrale in vergleichbarer Fülle und Verschiedenheit
Curvilinear-Maßwerk, wie Exeter ein Kompendium des geometrischen Maß-
werks ist. Der Reichtum der Ideen läßt sich am besten in dem Fenstermaßwerk
der kleineren oder größeren Pfarrkirchen und im blinden Maßwerk an Lettnern
oder andern Ausstattungsstücken fassen. Das große Westfenster von York oder T. 31,44
das Ostfenster von Selby sind nur ins Monumentale übertragene Beispiele,
kleinere oder bescheidenere Formen lassen sich überall im Nordosten finden. —
Der große Unterschied gegenüber dem südwestlichen Maßwerk in Wells oder
auch gegenüber Gloucester liegt vor allem darin, daß im Curvilinear-Maßwerk
bestimmte Formen sich unabhängig von einem bestimmten Aufrißtyp ganz frei
entfalten. Das Curvilinear-Maßwerk kann sich wie ein Spiel der Phantasie in
jeder Fläche entfalten. Es ist unabhängig und entspricht gerade darin den be-
sonderen Bedingungen der Pfarrkirchen, denn in diesen ist oft das Maßwerk die
einzige Dekoration. Daher fehlen meist Basen und Kapitelle, die äußeren
Zeichen einer Abhängigkeit vom Aufriß, oder, wenn sie angegeben werden, ge-
schieht es nur aus Tradition, ohne rechte innere Bedeutung. Diese Art des Maß-
werks gleicht, darin dem Dekorationsstil des Hofes. In der künstlerischen
Gestaltung sind beide allerdings weit getrennt. —
Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben Freeman und
Sharpe versucht, die Vielfalt der Maßwerkformen in ein Schema zu bringen.
Genau wie fast hundert Jahre später Behling (1944) wollten sie den Reichtum
der Formen auf eine begrenzte Anzahl von Grundformen — Behling nennt sie
Urbilder — zurückführen und dann im Wandel der Grundformen den Lauf
einer Entwicklung aufzeigen. Man ging sogar so weit, nach den beschreibenden
Bezeichnungen der Maßwerkformen die einzelnen Stilepochen zu benennen.
“Curvilinear” oder “geometrical” sind solche Namen. Freemans System
ist sehr weitläufig und teilt die Maßwerkformen in eine große Anzahl von For-
mengruppen ein. Behling dagegen stellt für die Entstehung des Curvilinear-
Maßwerks nur drei Prinzipien fest. Ihr zufolge wären die verschiedenen Formen
„1. durch Stauchung, 2. durch Streckung (strahlenartige Zerdehnung), 3. durch
Vermehrung oder Verminderung der Anzahl gleichgeordneter Flächenglieder“
zu erklären39. Zwickelblase und Fischblase sind die beiden Hauptmotive, die
39 Behling, 1944, p. 33.