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Aufriß
kleinste Ordnung, die Bogen im Maßwerk. Dieses System ist auch in der Höhe
abgestuft:, so daß sich das Langhaus nach dem zugrunde gelegten System aus einet
Folge von vertikal gerichteten, unterteilten und selbständigen Einheiten zusam-
mensetzt. Die Erkenntnis dieser Tatsache wird von dem persönlichen Erlebnis,
das jeder Betrachter einer hochgotischen Kathedrale erfährt, nicht berührt. Der
Eindruck der Kontinuität einer Langhauswand entwertet nicht die sinngemäße
Zuordnung aller Einzelformen zu einem übergreifenden System. Im Langhaus
von St. Denis (heg. 1231) ist diese Systematik so weit getrieben, daß man
schon aus dem Pfeilerquerschnitt das System des Aufrisses erschließen kann1. Die
rationale Klarheit des Systems von Amiens wird schon durchbrochen, weil nicht
nur der Gurtbogendienst, sondern auch die Dienste für die Diagonalrippen vom
Boden aufsteigen. Die Absicht, die Vertikale stärker zu betonen, hat dort die
Systematik zurückgedrängt. Außerdem sindTriforium und Maßwerk der Fenster
vollkommen miteinander verschmolzen. Die vertikale Betonung überspielt die
Abstufung. Die Wand hat in diesem System nur noch die Aufgabe, die Zwischen-
räume zu füllen. Allein ihre Fläche wirkt, nicht das Volumen, und auf ihr ent-
faltet sich das System. — Diese beiden Bauten setzen den Maßstab, nach dem
man die Einwirkung der französischen Architektur auf die englische beurteilen
muß. Von Amiens ging der Weg zu Westminster Abbey, von St. Denis sechzig
Jahre später zur Kathedrale von York. — Die englische Hochgotik läßt
dieses sog. „Dienst-Bogen-System" weitgehend vermissen. Wenn Dienste
im Aufriß verwendet werden, ist die Konsequenz der französischen Systematik
nicht eingehalten. Die Dienste sind dann so dünn, daß sie nur dekorativ wirken
und ihre Vertikale von der horizontalen Teilung des Aufrisses, von gelagerten
Schichten, überspielt wird (Worcester, Lichfield). In manchen Kathedralen
bleiben die Dienste sogar ohne zugehörige Bogen, weil sie nur „gotisierte“, an
sich normannische Formen des Aufrisses sind (Ripon, Chor, 1288—97; Whitby,
Chor). Nur in Details haben sie sich der fortgeschrittenen Entwicklung ange-
glichen. Ihr Vertikalismus gehört noch zur normannischen Tradition, nicht zur
Hochgotik. — Schmuckformen fehlen in Salisbury weitgehend, so daß wir
das klare Bild einer dreiteiligen, horizontal gegliederten Wand vor uns haben.
Man hat zu Recht immer wieder von einer kühlen Sachlichkeit und Strenge
gesprochen, die den Eindruck des Innenraums auf den Betrachter bestimmen.
Das Fehlen aller selbstgenügsamen Ornamentik oder Dekoration lenkt heute die
Aufmerksamkeit nur auf die Formen der reinen Architektur. Dieser Eindruck
dürfte auch in der ursprünglichen Bemalung nicht wesentlich anders gewesen
sein2. Wir können also nicht von einem System des Aufrisses sprechen, das in
deutlich sichtbarer Weise ausgedrückt sei, wie etwa bei einem Dienst-Bogen-
System. Die Struktur des Aufrisses beruht vielmehr auf einer Wandhaftigkeit
aller Formen. — Dieses alles bringt mit sich, daß im Aufriß alle Formen ihre
1 Vgl. Panofsky, 1951, p. 74 ff.
2 Vgl. p. 15.
Aufriß
kleinste Ordnung, die Bogen im Maßwerk. Dieses System ist auch in der Höhe
abgestuft:, so daß sich das Langhaus nach dem zugrunde gelegten System aus einet
Folge von vertikal gerichteten, unterteilten und selbständigen Einheiten zusam-
mensetzt. Die Erkenntnis dieser Tatsache wird von dem persönlichen Erlebnis,
das jeder Betrachter einer hochgotischen Kathedrale erfährt, nicht berührt. Der
Eindruck der Kontinuität einer Langhauswand entwertet nicht die sinngemäße
Zuordnung aller Einzelformen zu einem übergreifenden System. Im Langhaus
von St. Denis (heg. 1231) ist diese Systematik so weit getrieben, daß man
schon aus dem Pfeilerquerschnitt das System des Aufrisses erschließen kann1. Die
rationale Klarheit des Systems von Amiens wird schon durchbrochen, weil nicht
nur der Gurtbogendienst, sondern auch die Dienste für die Diagonalrippen vom
Boden aufsteigen. Die Absicht, die Vertikale stärker zu betonen, hat dort die
Systematik zurückgedrängt. Außerdem sindTriforium und Maßwerk der Fenster
vollkommen miteinander verschmolzen. Die vertikale Betonung überspielt die
Abstufung. Die Wand hat in diesem System nur noch die Aufgabe, die Zwischen-
räume zu füllen. Allein ihre Fläche wirkt, nicht das Volumen, und auf ihr ent-
faltet sich das System. — Diese beiden Bauten setzen den Maßstab, nach dem
man die Einwirkung der französischen Architektur auf die englische beurteilen
muß. Von Amiens ging der Weg zu Westminster Abbey, von St. Denis sechzig
Jahre später zur Kathedrale von York. — Die englische Hochgotik läßt
dieses sog. „Dienst-Bogen-System" weitgehend vermissen. Wenn Dienste
im Aufriß verwendet werden, ist die Konsequenz der französischen Systematik
nicht eingehalten. Die Dienste sind dann so dünn, daß sie nur dekorativ wirken
und ihre Vertikale von der horizontalen Teilung des Aufrisses, von gelagerten
Schichten, überspielt wird (Worcester, Lichfield). In manchen Kathedralen
bleiben die Dienste sogar ohne zugehörige Bogen, weil sie nur „gotisierte“, an
sich normannische Formen des Aufrisses sind (Ripon, Chor, 1288—97; Whitby,
Chor). Nur in Details haben sie sich der fortgeschrittenen Entwicklung ange-
glichen. Ihr Vertikalismus gehört noch zur normannischen Tradition, nicht zur
Hochgotik. — Schmuckformen fehlen in Salisbury weitgehend, so daß wir
das klare Bild einer dreiteiligen, horizontal gegliederten Wand vor uns haben.
Man hat zu Recht immer wieder von einer kühlen Sachlichkeit und Strenge
gesprochen, die den Eindruck des Innenraums auf den Betrachter bestimmen.
Das Fehlen aller selbstgenügsamen Ornamentik oder Dekoration lenkt heute die
Aufmerksamkeit nur auf die Formen der reinen Architektur. Dieser Eindruck
dürfte auch in der ursprünglichen Bemalung nicht wesentlich anders gewesen
sein2. Wir können also nicht von einem System des Aufrisses sprechen, das in
deutlich sichtbarer Weise ausgedrückt sei, wie etwa bei einem Dienst-Bogen-
System. Die Struktur des Aufrisses beruht vielmehr auf einer Wandhaftigkeit
aller Formen. — Dieses alles bringt mit sich, daß im Aufriß alle Formen ihre
1 Vgl. Panofsky, 1951, p. 74 ff.
2 Vgl. p. 15.