288 Fünfter Abschnitt. Das Retabel
allenthalben in Italien, in Frankreich, in Spanien, in den Niederlanden, im katholi-
schen Osten und auch in Deutschland.
Was insbesondere Deutschland anlangt, so hielt man dort bis zum Aus-
gang des 16. Jahrhunderts an der Praxis fest, die daselbst im ausgehenden Mittel-
alter allgemein war, d. h. man setzte noch immer nach wie vor das Retabel auE
die Mensa des Altares. Brachte ja doch der Einfluß, den die von Italien her ein-
dringende Renaissance in Deutschland auf das Retabel auszuüben anfing, für dessen
Aufbau zunächst meist keine eingreifendere Veränderung, nicht einmal das Fort-
fallen der Flügel. Es war hauptsächlich die stilistische Behandlung der Einzel-
glieder, welche wechselte, indem an die Stelle gotischer Säulchen, Bogen, Simse,
Profile, Ornamente, solche der Renaissance traten. Die Sache wurde erst anders,
als die Einwirkung des neuen Stiles auch auf den konstruktiven Aufbau überzugreifen
begann und die bisherigen Formen desselben durch die immer mehr sich ein-
bürgernde Ädikulaform verdrängle. Retabeln dieser Art auf die Mensa zu stellen,
war nur dann angängig, wenn sie von geringen Breiten- und Höhen Verhältnissen
waren. Ein ■ besonderer Unterbau mußte namentlich für das Ädikularetabel ge-
schaffen werden, als es in der Zeit des Barocks eine massigere Ausgestaltung fand,
über den Altar hinaus in die Breite sich ausdehnte und natürlich entsprechend auch
an Höhe mächtig zunahm. Die seit Ausgang des 16. Jahrhunderts auch in Deutsch-
land sich stetig steigernde Vorliebe für möglichst wirkungsvolle, breit hingelagerfe,
riesenhaft sich auftürmende Ädikularetabeln, die selbst der breiteste und tiefste
Altar nicht zu fassen vermochte, führte daher notwendig dazu, daß das Retabel auch
dort im Gegensatz zu seinem früheren Charakter immer mehr zum Hinterbau wurde.
Sehr lehrreich ist für diesen Wechsel im Charakter des Retabels die Umwand-
lung, welche sich mit dem Hochaltar des Domes zu ErEurt vollzog, als man ihn 1706
mit seinem heutigen kolossalen, bis zum Gewölbe des Chores aufstrebenden Barock-
retabel ausstattete. Man wollte den alten Hochaltar, in dem sich eine geräumige,
von der Rückseite her durch Tür und Stufen zugängliche Kammer befand, nicbl
zerstören, konnte aber auch das neue Riesenwerk unmöglich auf seiner Mensa
aufbauen, die durch dasselbe ganz in Beschlag genommen worden wäre. Man
fügte daher dem Altarstipes vorne ein Mauermassiv an, rückte die Mensa des Altares
entsprechend nach vorne, versah die hintere Hälfte der Kammer des alten Stipes.
die infolge des Verschiebens der Mensa ohne Decke war, mit einem korbbogigen
Gewölbe und baute nun auf diesem die Mittelpartie des neuen Barockretabels auf-
(Abb. Bd. 1, S. 218.)
Man mag es vielleicht angemessener finden, wenn das Retabel hinter
dem Altar auf einem besonderen Unterbau, als wenn es auf der Mensa des
Altares steht. Und doch kann man nicht sagen, daß es zum Heile des Retabel-
baues war, als man ihn nicht mehr auf der Mensa, sondern hinter derselben
anbrachte. Es war damit allen Ausschreitungen Tür und Tor geöffnet. Die
barocken Riesenretabei, machtvolle Haufen schwerster, massigster Archi-
tekturstücke, aber arm an Geist, weil arm an Bildwerk, welches allein dem
Retabel seine Bedeutung verleiht, wären nie zustande gekommen, wenn das
Altarretabel nicht Hinterbau geworden wäre.
Ein anderer mit diesem Wandel innerlich zusammenhängender Nachteil
war, daß dasjenige, was im Grunde nur Nebensache war, oft genug sich als
Hauptsache geltend machte, das Retabel nämlich, während das, was in Wirk-
lichkeit die Hauptsache war, der Altar, zu einem bloßen Anhängsel und Vor-
bau herabgewürdigt wurde. Kein Zweifel, vor zahlreichen Kolossalretabeln.
welche der Barock schuf, hat der Altar seine hervorragende Bedeutung in
bedauerlichem Maße verloren. Alfar und Zelebrans verschwinden förmlich
allenthalben in Italien, in Frankreich, in Spanien, in den Niederlanden, im katholi-
schen Osten und auch in Deutschland.
Was insbesondere Deutschland anlangt, so hielt man dort bis zum Aus-
gang des 16. Jahrhunderts an der Praxis fest, die daselbst im ausgehenden Mittel-
alter allgemein war, d. h. man setzte noch immer nach wie vor das Retabel auE
die Mensa des Altares. Brachte ja doch der Einfluß, den die von Italien her ein-
dringende Renaissance in Deutschland auf das Retabel auszuüben anfing, für dessen
Aufbau zunächst meist keine eingreifendere Veränderung, nicht einmal das Fort-
fallen der Flügel. Es war hauptsächlich die stilistische Behandlung der Einzel-
glieder, welche wechselte, indem an die Stelle gotischer Säulchen, Bogen, Simse,
Profile, Ornamente, solche der Renaissance traten. Die Sache wurde erst anders,
als die Einwirkung des neuen Stiles auch auf den konstruktiven Aufbau überzugreifen
begann und die bisherigen Formen desselben durch die immer mehr sich ein-
bürgernde Ädikulaform verdrängle. Retabeln dieser Art auf die Mensa zu stellen,
war nur dann angängig, wenn sie von geringen Breiten- und Höhen Verhältnissen
waren. Ein ■ besonderer Unterbau mußte namentlich für das Ädikularetabel ge-
schaffen werden, als es in der Zeit des Barocks eine massigere Ausgestaltung fand,
über den Altar hinaus in die Breite sich ausdehnte und natürlich entsprechend auch
an Höhe mächtig zunahm. Die seit Ausgang des 16. Jahrhunderts auch in Deutsch-
land sich stetig steigernde Vorliebe für möglichst wirkungsvolle, breit hingelagerfe,
riesenhaft sich auftürmende Ädikularetabeln, die selbst der breiteste und tiefste
Altar nicht zu fassen vermochte, führte daher notwendig dazu, daß das Retabel auch
dort im Gegensatz zu seinem früheren Charakter immer mehr zum Hinterbau wurde.
Sehr lehrreich ist für diesen Wechsel im Charakter des Retabels die Umwand-
lung, welche sich mit dem Hochaltar des Domes zu ErEurt vollzog, als man ihn 1706
mit seinem heutigen kolossalen, bis zum Gewölbe des Chores aufstrebenden Barock-
retabel ausstattete. Man wollte den alten Hochaltar, in dem sich eine geräumige,
von der Rückseite her durch Tür und Stufen zugängliche Kammer befand, nicbl
zerstören, konnte aber auch das neue Riesenwerk unmöglich auf seiner Mensa
aufbauen, die durch dasselbe ganz in Beschlag genommen worden wäre. Man
fügte daher dem Altarstipes vorne ein Mauermassiv an, rückte die Mensa des Altares
entsprechend nach vorne, versah die hintere Hälfte der Kammer des alten Stipes.
die infolge des Verschiebens der Mensa ohne Decke war, mit einem korbbogigen
Gewölbe und baute nun auf diesem die Mittelpartie des neuen Barockretabels auf-
(Abb. Bd. 1, S. 218.)
Man mag es vielleicht angemessener finden, wenn das Retabel hinter
dem Altar auf einem besonderen Unterbau, als wenn es auf der Mensa des
Altares steht. Und doch kann man nicht sagen, daß es zum Heile des Retabel-
baues war, als man ihn nicht mehr auf der Mensa, sondern hinter derselben
anbrachte. Es war damit allen Ausschreitungen Tür und Tor geöffnet. Die
barocken Riesenretabei, machtvolle Haufen schwerster, massigster Archi-
tekturstücke, aber arm an Geist, weil arm an Bildwerk, welches allein dem
Retabel seine Bedeutung verleiht, wären nie zustande gekommen, wenn das
Altarretabel nicht Hinterbau geworden wäre.
Ein anderer mit diesem Wandel innerlich zusammenhängender Nachteil
war, daß dasjenige, was im Grunde nur Nebensache war, oft genug sich als
Hauptsache geltend machte, das Retabel nämlich, während das, was in Wirk-
lichkeit die Hauptsache war, der Altar, zu einem bloßen Anhängsel und Vor-
bau herabgewürdigt wurde. Kein Zweifel, vor zahlreichen Kolossalretabeln.
welche der Barock schuf, hat der Altar seine hervorragende Bedeutung in
bedauerlichem Maße verloren. Alfar und Zelebrans verschwinden förmlich