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Vereinigung zur Erhaltung Deutscher Burgen [Hrsg.]
Der Burgwart: Mitteilungsbl. d. Deutschen Burgenvereinigung e.V. zum Schutze Historischer Wehrbauten, Schlösser und Wohnbauten — 36.1935

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Busch-Zantner, Richard: Das Erdstall-Problem
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https://doi.org/10.11588/diglit.35025#0059
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im Sinne Hocks weniger an eine Fluchtanlage als vielmehr an ein Sachdepot gedacht werden könnte, so sind doch
auch wieder andere Anlagen bekannt, die auf eine andere Verbindungsmöglichkeit Hinweisen. Beispielhaft ist hierfür
etwa die Erdstallanlage unter dem Kirchhof vom Ramberg (Oberbayern) und auch jene von Großinzemoos bei Dachau,
wo sich Erdställe sowohl an der Nord- wie an der Südseite der Kirchhofmauer hinziehen und zum Teil allerdings
mit Anwesen, die eng an den Kirchhof gebaut sind, in Verbindung stehen. Nichtsdestoweniger aber ergibt sich aus
der Gesamtanlage, daß das Schwergewicht des Gangsystems beim Kirchhof liegt und lediglich die Zugänge von
Kellern der Nachbarschaft aus in Deckung gebracht worden sind.
Derartige Anlagen legen wohl die Vermutung nahe, daß hier, sofern es sich um Erdställe unter Kirchen des
Dorfes und nicht unter individuellen Hofstellen handelt, die Erdställe als Anlagen der Dorfgemeinschaft zu werten
sind und daher auch von dieser Gemeinschaftsvorstellung aus auf ihre Zwecksetzung als Wehranlagen überprüft werden
müssen. Es sei deshalb hier eine These zur Diskussion gestellt, die gerade die dringend erforderliche, eingehende Be-
handlung der Erdställe in ihrer Eigenschaft als Wehrbauten anregen will und die vielleicht gerade auch die Ein-
beziehung gewisser Anlagen, die mit Kirchen
in Verbindung stehen, gestattet.
Wie bekannt schied im Lauf der gesell-
schaftlichen Entwicklung des deutschen Volkes
im frühen Mittelalter der Bauer langsam
aus dem Wehrverband aus, und mit diesem
Ausscheiden verband sich, da die gesellschaft-
liche Verfassung auf dem Wehrwesen aufge-
baut war, dann auch eine langsame soziale
Verschiebung im Range des Bauern, die
schließlich zur Katastrophe von 1525 führte.
Der Bauer wurde so langsam dem aktiven
Kampfesdienst in eigener Sache entzogen, er
war nur passiv Beteiligter am Krieg. Da
nun im Mittelalter der Unterschied von Stadt
und Land rechtlich sich dahin formulierte, daß
der Stadt die Ummauerung gestattet, dem
nichtstädtischen Wohnraum aber versagt war
(man vergleiche das Rechtssprichwort: „Bür-
ger und Bauer trennt nichts als die Mauer"),
verlor das Bauerntum die Möglichkeit, seine
Wohnsitze verteidigungsfähig zu machen. Es
ergab sich so der Ausweg, daß entweder die
Kirchen befestigt wurden, so daß denn auf
diese Weise die vielfach ja noch erhaltenen wundervollen Kirchenburgen Süddeutschlands bzw. die Wehrkirchen Nord-
deutschlands entstanden, oder aber, und dies ist nun für unseren Fall wichtig, man verzichtete auf die positive Zurüstung
des einen großen Gemeinschaftsbaues im Dorfe, der Kirche, zu Wehrzwecken, und beschränkte sich darauf, in den Sied-
lungen selbst lediglich Schlupfwinkel zu rascher Flucht anzulegen. So wie in waldreichen Gebieten Westdeutschlands
die Leerwanderung von Dörfern infolge Kriegskünsten bekannt ist, dürften die Erdställe als Rückzugsräume gedient
haben. Sie sind demnach als defensive Wehrbauten des Bauerntums aufzufassen, wie sie sich aus seiner wehrpolitischen
und damit gesellschaftlichen Lage im Mittelalter ergaben. Es bestand dabei die Möglichkeit, entweder jeder Hofstelle
ein derartiges Versteck zu geben oder aber man legte die Gänge als Gemeinschaftswerk des ganzen Dorfes unter der
Kirche an, und so kamen denn Anlagen wie etwa Großinzemoos usw. zustande, vergleichsweise, wenn man will, eine
Art von Kirchenburgen unter der Erde.
Selbstverständlich handelt es sich hier nur, wie ausdrücklich betont sei, um eine Hypothese. Aber die Über-
prüfung wird sich lohnen. Die Erforschung der Erdställe gerade in ihrer Eigenschaft als Wehrbauten dürfte eine sehr
dankenswerte Aufgabe sein und auch yolkskundlich zweifelsohne beachtliche Ergebnisse bringen.
Benützte Literatur: Braumüller, „Ein Wort zur Lösung der Frage der unterirdischen Gänge", Verband!. d. Historischen
Vereins für Oberpfalz und Regensburg, 1878. — Gradmann, „Landeskunde von Süddeutschland", 2. Bd., 1931. — Hartmann,
„Unterirdische Gänge", Beiträge zur Anthropologie und Urgeschichte Bayerns, 1887. — Hauer, „Neue Beiträge zur Kenntnis der Erd-
ställe in Niederösterreich", Monatsblatt des Vereins f. Landeskunde von Niederösterreich, 1909. —- Hauer, „Sind die Erdställe aus der
prähistorischen Archäologie zu streichen?", Wiener Prähistorische Zeitschrift, 1916. —Hock, „Erdställe in Mainfranken", Bayerische Vor-
geschichtsblätter, 1934. — Jessen, „Höhlenwohnungen in den Mittelmeerländern", Petermanns Mitteilungen, 1930. — Karner, „Künst-
liche Höhlen aus alter Zeit", 1903. — Karner, „Neue Beiträge zur Kenntnis der Erdställe in Niederösterreich", Monatsblatt d. Vereins
f. Landeskunde von Niederösterreich, 1909. — Kunstdenkmale Bayerns, Abtl. Unterfranken, Bd. Ochsenfurt, o. I. — Menghin, „Über
das Alter der Erdställe und Hausberge",Wiener Prähistorische Zeitschrift, 1916.—Panzer, „Bayerische Sagen und Bräuche", Bd. 1,1848.—
Ranke u. a., „Künstliche Höhlen in Bayern", Beiträge zur Anthropologie und Urgeschichte Bayerns, 1879.— Reinecke, „Zur Zeitstellung
der Erdställe", Wiener Prähistorische Zeitschrift, 1917.


Abb.87. Großinzemoos. Außenansicht (Blick gegen Norden) zu der Situations-
skizze Abb. b. Unter dem Obstgarten ziehen sich die Gänge hin.
 
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