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STADT TEGERNSEE

Tegernsee
Der Ort Tegernsee, 1954 zur Stadt erhoben, liegt am Ostufer
des gleichnamigen, durch den tertiären Tegernseegletscher
entstandenen Sees (725 m über NN) und umfaßt jene Stelle,
wo vor mehr als 1200 Jahren das nachmals berühmte Benedik-
tinerkloster gegründet wurde. Der anfänglich bestmöglichen
Platzauswahl durch die beiden Klostergründer Adalbert und
Otkar verdankt der Ort noch heute die mildesten klimatischen
Bedingungen unter allen Talgemeinden: auf das An-
schwemmdelta des Alpbaches und die darüber aufsteigenden
sonnenseitigen Hänge ausgebreitet, wird die Siedlung von
Norden durch den Höhenzug der Neureuth und des Großte-
gernseer Berges und von Osten durch Kreuzberg und Pfligl-
eck abgeschirmt; zugleich hat der nach Südwesten anstehende
See hier seine größte Breite. In früherer Zeit bot die topogra-
phische Lage Schutz vor Angreifern durch die beiden hier eng
an den See herantretenden Steilhänge, die Klosterwacht im
Nordwesten und den Leeberg im Südosten. Diese landschaft-
lichen Vorzüge in Verbindung mit der Anziehungskraft des
wirtschaftlich und geistlich bedeutenden Klosters zogen spä-
ter auch den Verkehrsfluß an das Ostufer des Sees, wo die
Straße von München über Holzkirchen, Warngau, Gmund,
vorbei am Wallfahrtskirchlein des Hl.Quirinus und am Kloster-
komplex selber über Egern, Kreuth, Wildbad und Glashütte
zum Achensee führte. In wirtschaftsgeographischer Konse-
quenz gehörten alle diese Orte an der Verkehrsachse sowohl
pfarr- als auch herrschaftsmäßig zum Kloster, das südlich der
Gmünder Mangfallbrücke auch die Niedergerichtsbarkeit
ausübte. Der Vorrang der östlichen Verkehrslinie blieb bis
heute ungebrochen, obwohl unterdessen auch das Westufer
durch eine Bundesstraße erschlossen wurde; als 1883 die Ei-
senbahn von Schaftlach nach Gmund und 1902 weiter nach
Süden fortgesetzt wurde, wählte man für die Trassenführung
ebenfalls das Ostufer mit dem Zielort Tegernsee. Ebenso sind
bis zum heutigen Tage die Dichte und entwicklungsgeschicht-
liche Aktualität der Baudenkmale vorzugsweise am Ostufer
ablesbar.
Der historische Baubestand im Bereich der Stadt Tegernsee
läßt sich in vier Hauptgruppen zusammenfassen: 1. der Bau-
bestand vor dem 18. Jh., der also älter ist als 300 Jahre und
teilweise bis ins hohe Mittelalter zurückreicht; 2. der reiche
Bestand des 18. Jh.; 3. die Bauten von 1816-1841, welche man
als die Bauten der königlichen Zeit bezeichnen kann; 4. die
Gebäude aus der Zeit von 1860 bis ca. 1930, die unter den Be-
griff der Heimatstilbauten zählen.
Den ältesten Tegernseer Baubestand bilden fast ausnahmslos
die Gebäude der alten Benediktinerabtei. Die Klosterkirche
als ehrwürdigster Bau enthält seitlich des Hauptaltares und in
den Unterbauten der Türme noch Mauerwerk des ll.Jh.; da-
mit steht hier die wohl früheste erhaltene Westwerk-Doppel-
turmanlage Oberbayerns. Die Baustufe der Gotik ist im übri-
gen Mauerwerk der Kirche und in der zweigeschossigen Sa-
kristei erhalten. Die Baustufe des Barock zeigt sich in dem ab
1678 begonnenen Klosterbau, einer von Abt Bernhard Wen-
zel und dem Münchener Hofbaumeister Enrico Zuccali ein-
heitlich konzipierten Idealanlage.
Die Bautengruppe des 18. Jh. wird einerseits von der Fortfüh-
rung der Klosteranlage bestimmt, die zum größten Kloster-
komplex in Altbayern (% vom Umfang des Escorial!) erwei-
tert wurde, andererseits von einer stattlichen Anzahl von
Bauernhöfen, die zum Kloster gehört haben. Dieses Kloster
konnte offenbar die Arbeitsweise und damit die Erträgnisse
der Landwirtschaft in der 1. Hälfte des 18. Jh. so sehr verbes-
sern, daß die Bauern wirtschaftlich in die Lage versetzt wur-

den, neu und anspruchsvoll bauen zu können. Besonders un-
ter der Führung des Benediktinerpaters Marian Praunsberger
(1682-1741) scheint dieser wirtschaftliche Aufschwung einge-
treten zu sein; dieser war als «Granarius» und später als
«Summus Celerarius» für die Landwirtschaft und dann für
die gesamte Wirtschaft des Klosters verantwortlich und hat
sein Amt als einer der ersten nach naturwissenschaftlichen
Forschungsprinzipien ausgeübt.
Die Klosteraufhebung von 1803 brachte einen Stillstand gro-
ßer Bauleistungen; als einziger scheint der Reisbergerhof
noch bis 1806 fertiggestellt worden zu sein. Danach erfolgten
bis 1817 im Auftrag des Freiherrn von Drexl, der die Kloster-
gebäude am 4. Januar 1805 um 44000 Gulden ersteigert hatte,
eingreifende Abbrüche: Die ganze westliche Klosterhälfte
und die gotische Pfarrkirche St. Johann am Burgtor wurden
dem Erdboden gleichgemacht. Es wird berichtet, daß Drexl
durch den Verkauf des Abbruchmaterials die Ersteigerungs-
summe für den Gesamtkomplex wieder einbringen konnte.
Besonders schmerzlich ist dabei die Abtragung des Südwest-
traktes mit dem Stiegenhaus vor der Abtei und mit dem gro-
ßen Festsaal samt seiner Rokokoausstattung (u. a. Fresken
von Matthäus Günther).
Der Rückkauf der noch verbliebenen östlichen Klosterhälfte
zum Ausbau einer Sommerresidenz durch König Max I. Jo-
seph 1817 um die von Drexl nunmehr vervielfachte Summe
von 120000 (!) Gulden hatte zwar einerseits die Erhaltung der
äußeren Mauersubstanz zur Folge, andererseits brachte er je-
doch auch den Verlust der Innendekorationen des Konvent-
stiegenhauses (Figuralplastik von Ehrgott Bernhard Bendel),
des Theatersaales, des Refektoriums (u.a. Johann Baptist
Zimmermann und Hans Degler) und vor allem der einzigarti-
gen doppelstöckigen Bibliothek von rund 33 m Länge und
14 m Breite, an deren Ausstattung 10 Jahre gearbeitet worden
war; auch die ehern. Klosterkirche wurde durch Verkürzung
um 18 m mit Einfügung einer Trennmauer entstellt.
Im Gefolge der königlichen Familie kamen damals Adelige
und Kunstschaffende an den Tegernsee, welche für sich neue
Gebäude errichten oder bestehende umbauen ließen. Die ar-
chitektonischen Gestaltungselemente gewann man an den
noch einsehbaren Klosterbauten, welche im inneren Kloster-
bereich das Vollwalmdach, im klosterzugehörigen Bereich
(außerhalb des Torbaues) das Halbwalmdach ausgeprägt und
somit eine Bauhierarchie ausgedrückt hatten. Die einzige Aus-
nahme von dieser Stiladaption war das ehern. Landgerichtsge-
bäude, das in seiner Erstausführung ab 1834 durch Joseph
Daniel Ohlmüller in ähnlichem Stil wie hernach die Ludovi-
zianischen Bahnhofsbauten entworfen wurde.
Die vierte Baugruppe verdankt ihr Entstehen dem Aufblühen
des Fremdenverkehrs nach der Mitte des 19. Jh. (1857 Eisen-
bahn München-Holzkirchen, 1883 Schaftlach-Gmund, 1902
Gmund-Tegernsee). In einer 1854 erschienenen Broschüre
«Der Tegernsee und seine Umgebung» beschreibt Max Carl
von Krempelhuber, daß zwischen die «theils unmittelbar am
Seeufer, theils auf den sanften Höhen des dicht angränzenden
Bergrückens zerstreute Lage der (Bauern-) Häuser» neuer-
dings «mehrere im ländlichen Style gebaute Landhäuser städ-
tischer Familien, welche hier die Sommermonate zubringen»,
getreten seien. Dieses Anlehnungsbedürfnis an «ländlichen
Stil» zieht sich nun in mehreren Phasen bis zur Gegenwart
durch, deren Betrachtung für die Entwicklung des Heimatsti-
les nicht nur am Tegernsee aufschlußreich ist. Als erstes kehrt
man sich vom Vorbild der klösterlichen und königlichen Bau-
ten ab und wendet sich dem einfachen, verputzten Satteldach-

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