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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 15.1994

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Hennig, Heinz: Der Mensch im Spannungsfeld zwischen Mangel und Konsum - psychische Krankheit als Kritik an der Konsumgesellschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.31839#0037

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Heinz Hennig

Der Mensch

im Spannungsfeld zwischen
Mangel und Konsum -
Psychische Krankheit als
Kritik an der
Konsumgesellschaft

1. Einige einführende Bemerkungen

Der Mensch muß konsumieren (verbrauchen,
verzehren) sowohl als biologisches als auch als
psychosoziales Wesen. Jedes Individuum muß
sich demnach in besonderer Weise mit dem
Phänomen "Konsum" auseinandersetzen, dies
ist eine unumgängliche Tatsache. Kein Mensch
kann nicht nichtkonsumieren.

Dies waren so die ersten Gedanken, die mir
am Beginn meiner Beschäftigung mit diesem
Vortrag einfielen. Für mich, der ich aus einem
Teil Deutschlands komme, in dem noch vor
wenigen Jahren von einem autoritären System
eine eigenwiilige Mangelwirtschaft verwaltet
wurde, die jedoch auf eine merkwürdige Weise
Konsum als eine wesentliche Motivation für
individuelle und gesellschaftliche Leistungen
zu nutzen versuchte, liegt es nahe, bei dem Ge-
danken an Konsum sowohl Mangel als auch
Überfluß zu assoziieren. Dabei wird mir sofort
bewußt, daß sich hieraus ein psychisches
Spannungsfeld ableiten läßt, dessen emotionale
Dynamik die gesamte menschliche Erlebens-
palette von Neid, Angst und Aggression bis
hin zu Freude und Glück umfaßt. Diese Psycho-
dynamik hat sicherlich wesentlichen Einfluß auf
Krankheit und Gesundheit, psychisch und
körperlich.

Im Unterschied zur westlichen Welt wurde je-
doch im sogenannten "realen Sozialismus", also
in den nach marxistisch-kommunistischen Prin-
zipien regierten Ländern die Erfüllung von be-
stimmten Konsumwünschen in der Regel weit
in die Zukunft hinein verlagert und von einem

gewissen Wohlverhalten gegenüber der Staats-
räson abhängig gemacht. Zwar vermochten
weder härtere Pressionen in den Zeiten des
kalten Krieges noch bestimmte raffinierte
Propagandamethoden die Anziehungskraft
westlicher Konsumangebote und auch das
entsprechende Konsumverhalten im Osten zu
mindern oder gar zu erschüttern; mögliche
Ambivalenzen oder gar Gefahren, die von
eskalierendem Konsum als Existenzprinzip, von
Konsumismus z.B. drohen könnten, wurden al-
lenfallsvon Randgruppen reflektiert. Insofern ist
der Zusammenbruch der kommunistischen Sy-
steme auch ein Ergebnis von langjährigen Krän-
kungen durch erzwungenen Konsumverzicht
der dort lebenden Menschen, also von Demüti-
gung durch subjektiv erlebten Mangel bei zu-
nehmender Idealisierung des lediglich aus
Schilderungen von Besuchern, Televisions-
berichteri und gelegentlichen Kurzbesuchen bei
Verwandten bekannten Wohlstandes der rei-
chen Schwestern und Brüder im Westen. Be-
richte von den in den letzten Jahren vor dem
Mauerfall besuchsweise in westlichen Ländern,
insbesondere nach Westdeutschland Reisen-
den über Wohlstand und Konsum wirkten sei-
nerzeit bisweilen abenteuerlich, ihre Stimmung
war unter diesen Eindrücken nicht selten de-
pressiv bis resignierend, gelegentlich imponier-
ten einige schockartig gestört. Dabei handeit es
sich in der Regel keinesfalls um verarmte oder
diskriminierte Menschen, welche dieses
Konsumgefälle zwischen Ost und West nicht
ertragen konnten, sondern um solche, die in
ihrem eigentlichen Lebenskreis kaum wesentli-
chen Existenzproblemen ausgesetzt waren.
Ähnliche Phänomene ließen sich unschwer bei
Besuchern aus dem ehemaligen sowjetischen
Osten beobachten, die Konsumdiskrepanz zu
ihrem Heimatland hin wirkte sich ähnlich aus.

Hingegen äußerten westliche Besucher im
Osten (Deutschlands und anderswo) eher
Mitleid mit den "armen Verwandten" ob ihrer
Mangelsituation, lobten bisweilen ihre Beschei-
denheit, die fürsie gelegentlich befremdlich wir-
kenden zwischenmenschlichen Beziehungen,
wobei sich letztere tatsächlich aus einer den
Mangel kompensierenden Motivation in Form
eines "privaten Sozialnetzes" heraus entwickelt
hatten, das sich übrigens in bestimmten Lebens-
bereichen durchaus als tragfähig erwies und
damit eine eigenwillige Art sozialer Geborgen-
heit suggerierte.

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