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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 25.1909-1910

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Michel, Wilhelm: Rezeptive Begabung
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https://doi.org/10.11588/diglit.7377#0095

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Rezeptive Begabung.

gezüchtet würden. Hand aufs Herz: Weiß
nicht jeder von uns, der mit Künstlern viel
Umgang hat, soundso viele davon zu nennen,
deren künstlerische Neigungen sie gerade zu
geschmackvoller, anspornender Rezeption,
nicht aber zur Produktion befähigen? Aber
unser Zeitalter hat den Tick aufs Produktive.
Der nicht Produzierende gilt als Mensch
zweiten Ranges. Sobald einer irgend ein
Verhältnis, eine Neigung zur Kunst in sich
spürt, wird schöpferische Begabung diagno-
stiziert und dadurch meistens nur ein Dilet-
tant mehr in die Welt gesetzt. Aber Hin-
horchen und Zusehen können, wenn einer
etwas Ehrliches zeigt, das ist auch eine Tätig-
keit, die aller Ehren wert ist. Und rezeptive

Begabungen möchte ich diejenigen nennen,
die kulturelles Verantwortlichkeitsgefühl in
sich haben, die wissen, daß auch der ver-
ständnisvolle Zuschauer ein Arbeiter im
Dienste der Menschheit ist. Rezeptive Be-
gabungen nenne ich diejenigen, denen künst-
lerische Werte Realitäten sind wie Geld
und Blut, denen ein Bild, ein Buch, ein
Schauspiel wirklich erscheinen, als Bau-
steine am Bau der zeitgenössischen Kultur.

Aber bei uns in Deutschland ist es so —
ich wähle ein Beispiel aus der Tätigkeit des
Schriftstellers, der Klarheit wegen: Rede in
deiner Zeitung, deiner Zeitschrift oder auch
in deinen Büchern zehn Jahre lang mit Men-
schen- und mit Engelzungen, du hörst kein

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