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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 25.1909-1910

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Michel, Wilhelm: Die Kunst vor Gericht
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https://doi.org/10.11588/diglit.7377#0272

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Wilhelm Michel:

GEORGE MINNE LAETHEM.

Kalkstein-Grabmal mit der Figur eines fackellösclienden
Genius auf dem Alten Friedhof zu Hagen i. Westfalen.

DIE KUNST VOR GERICHT.

Die Frage der Sittlichkeit in der Kunst ist lei-
der längst keine künstlerische Frage mehr,
Von hüben wie von drüben ist Verwirrung in
sie hineingetragen worden. Keime zu solcher
Verwirrung enthält schon der Buchstabe des
Gesetzes, das für gewisse Fälle die Zitierung
des Künstlers vor das richterliche Forum vor-
sieht. Ich möchte damit keineswegs dem
Staate das Recht abgestritten haben, sich gegen
gewisse, mit künstlerischen Mitteln begangene
Angriffe auf das Schamgefühl zu schützen.
Ich möchte nur auf den notwendigen tragischen
Widerspruch zwischen der Absicht und
der Wirkung des Gesetzesbuchstaben hin-
weisen. Der Buchstabe will immer Lebendiges
schützen, aber in der Praxis gelangt er fast
immer dazu, Lebendiges zu töten. Wenn das
in der Rechtserzeugung begabteste Volk, die
Römer, den Satz aufstellte: Summum jus,
summa iniuria! so hat es darin eine profunde
Kenntnis dieser „Tragik der Formel" bekundet.
Weitere Verwirrung ist in die Frage „Kunst

und Sittlichkeit" durch gewisse rückständige
Volkskreise hineingetragen worden, die sich
gerade der Kunst gegenüber als die berufenen
Hüter von Moral und Sitte aufzuspielen lieben.
Sie haben die Anwendung des Buchstabens,
die Rechtsprechung, häufig in falsche Bahnen
gelenkt. Sie haben auf diese Weise den un-
natürlichen Zustand geschaffen, daß Künstler
und ihre Genossen der Rechtsprechung und
ihren Organen wie einem Feinde gegenüber
stehen. Die Furcht vor diesem Feinde kann
man aus allen Sachverständigen-Gutachten
herauslesen. Die Sachverständigen sind dazu
gelangt, in ihren Aussagen Politik zu treiben,
weil eben das Vertrauen fehlt, daß aus Zu-
geständnissen ihrerseits nicht haarsträubend
falsche Folgerungen gezogen werden, weil
ferner das Strafmaß des Gesetzes ihren be-
rechtigten Anschauungen nicht entspricht.

Zu guter Letzt beteiligen sich dann noch die
Künstler an der Trübung der ganzen Ange-
legenheit, indem sie mit Schöpfungen an die
 
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