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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 25.1909-1910

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Michel, Wilhelm: Rezeptive Begabung
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https://doi.org/10.11588/diglit.7377#0096

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Wilhelm Michel— München:

C. O. CZESCHKA —HAMBURG

noch so leises Echo, sofern deine Leistung
„nur" auf erstklassige Form, „nur" auf Tief-
sinn und Originalität des Gedankens ausgeht.
Aber schneide in der plumpsten, ungewähl-
testen Form eine „aktuelle Frage" oder gar
ein Sonderinteresse an, sprich aus, was nicht
nur du allein und zehn andere, sondern Hun-
derte und Tausende denken: sogleich bedeckt
sich dein Tisch mit Zuschriften, aus denen die
leidenschaftlichste Parteinahme für und wider
herausdröhnt. Was beweist das? Es beweist,
daß gute Form und gutes Denken nicht als
Realitäten gewertet werden. Vor drei Jahren
war's, da schrieb in einer norddeutschen Zei-
tung ein völliger Neuling, dessen Namen noch
niemand gelesen hatte, ein Feuilleton über

irgend eine Sache, mit der vielerlei lokale
Interessen verknüpft waren. Unter den Repli-
zierenden befand sich ein Schriftsteller, der
jahrelang in demselben Blatte kluge, sehr
kluge und gut geschriebene Essais veröffent-
licht hatte. Der Neuling errang mit diesem
einen Aufsatz Ehre und Ansehen, mehr als
der andere in fünf Jahren. Das gute bei der
Sache aber war, daß der „Neuling" und dieser
andere ein und dieselbe Person waren, und
diese Person pflegte dann von seinem Pseudo-
nymen Ich zu sagen: „Ich" bin jetzt wesent-
lich berühmter als ich, obwohl ich genau
fünfzigmal so viele und fünfzigmal bessere
Arbeiten veröffentlicht habe als „Ich".

Scherzhaft liest man manchmal das Be-

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