Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 25.1909-1910

DOI Artikel:
Brieger, Lothar: Auguste Rodin - Paris
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.7377#0141

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
AUGUSTE RODIN-PARIS.

VON LOTHAR BRIEGER-WASSER VOGEL.

An der Börse zu Brüssel befinden sich eine
J~\ Anzahl roher, aber mächtiger Karyatiden,
die mit gewaltigen Schultern und Armen schier
zerbrechend lastende Steinmassen stützen. Ein
belgischer Bildhauer schuf sie seiner Zeit, ein
Herr van Rasbourg, von dem man heute nichts
mehr weiß, als daß er dabei einen jungen Stein-
metzen zum Gehilfen hatte, Auguste Rodin.
Wenige Jahre später führt die staatliche Por-
zellanfabrik von Sevres einige sehr reizvolle
Entwürfe aus, die von einem jungen Bildhauer,
namens Auguste Rodin, stammen, der soeben
in Paris seine Studien vollendet hat. Aus dem
Triebe zum Kolossalisch-Monumentalen und
dem Gefühl für die ästhetische Feinheit der
zierlichsten Details erzeugt sich das Werk
Auguste Rodins, Es kommt her von der Nie-
derung letzter materieller Not, und der junge
Bildhauer, der sich in den Ateliers von Brüssel
undParis karges Brotmithandwerklicher Arbeit
gewinnt, hat keinen Protektor, niemanden, der
ihn „entdeckt", ihn fördert, ihm die Ausführ-
ung der sein Blut durchrasenden künstlerischen
Impulse möglich macht. Ein Steinmetz unter
vielen, ein stiller Kunstschüler, hat er nichts,
was auffällt oder interessiert. Die besten, die
stärksten jungen Jahre vergehn in der Frohne,
der junge Franzose mit dem Stiernacken formt
gegen billigen Lohn Nippes, Luxusspielwerk.
Aber neben diesem unauffälligen Frohnwerkler
lebt bereits ein anderer Rodin, der Rodin des
Skizzenbuches. Ein Künstler, der jede freie
Stunde benutzt, um mit gierigen Augen Men-
schen und Leben zu verzehren, in sich aufzu-
saugen, der über einen Atlas ihm eigener Be-
wegungsmotive und Masken des Lebens be-
reits in einem Alter verfügt, in dem andere
noch kaum wissen, daß es auch anderes gibt
als die Antike. Die Berufung liegt in uns,
da ist nur zu formen, nichts hinein zu erziehen.
Es ist verblüffend, in diesen jungen Skizzen-
büchern ganz ohne Deuterei den Schöpfer der
neuen Plastik bereits immer zu sehen, den
Bildhauer, dem das Momentane, die Bewegung
alles ist, der Zustand garnichts.

Frankreich liegt im tiefen Schlummer. De-
lacroix ist lange tot, so lange, daß man ihn
schier vergessen hat. Im Louvre irgendwo ver-

staubt, von der Menge kaum beachtet, von
einigen vereinzelten Kunstrevolutionären in
roten Westen und Calabresern angeschwärmt,
die Barke des Dante. Von Daumier weiß man
gerade noch, daß er ein recht amüsanter Kari-
katurist war mit einer lebhaften Abneigung
gegen den roi citoyen Louis Philippe, Aber
ein frischer Hauch beginnt durch diese erstor-
bene Welt zu gehen, neues Leben, das sich
keck rühren will. Lacroix fängt an, seine ersten
Goyapublikationen herauszubringen, und man
hört mit Staunen, was da hinten in Spanien
für ein merkwürdiger Kerl gelebt hat, wild,
unbändig, ein Spieler, ein Händelsucher, ein
Frauenverführer, der dem vollen Leben sein
Recht gab, nicht idealisierte und seiner Lein-
wand ein seit der Renaissance — den ver-
schollenen il Greco nicht zu vergessen — un-
erhörtes Leben gab. Das wirkt. Die franzö-
sische Malerei beginnt sich zu rühren und von
der klassizistischen Leere der großen Louvre-
säle energisch abzurücken. Manet, Monet,
Degas, Millet — zuerst verlacht, predigen jeder
in seiner Weise das Evangelium Goyas, die
Kunst als Selbstzweck, nicht als eine unnatür-
liche Idealisierung mit willkürlichen Mitteln,
sondern als ein Durchgehen der Natur durch
ein künstlerisches Temperament und eine in
ihren Bedingungen wurzelnde höhere Wieder-
geburt daraus. Zola und Huysmans schreiben
ihre Kunstaufsätze, die Literatur stellt sich
leidenschaftlich auf die Seite der neuen Tem-
peramente. Aber in der Plastik sieht es noch
übel aus. Kein Mensch weiß, wie eine Be-
wegung in Wahrheit aussieht. In den Kunst-
schulen steht die Holzpuppe, man gibt ihr
Stellungen, man drapiert sie mit Kleidungs-
stücken, man hat nicht die schwächste Ahnung
davon, daß eine Bewegung in Körper und
Kleid bei lebenden Gliedern ganz anders aus-
sieht als in Holz. Houdon wirkt nicht mehr,
der einzige Große in der Vergangenheit fran-
zösischer Plastik. Ihre Erneuerer, die Schöp-
fer ihrer Zukunft arbeiten noch in der Schule
und im Handwerk, Rodin, Bartholome, Char-
pentier, Vallgren. Einsam schafft der große
Barye, der größte Tierbildhauer, den die Neu-
zeit kennt.

127
 
Annotationen