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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 25.1909-1910

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Brieger, Lothar: Auguste Rodin - Paris
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https://doi.org/10.11588/diglit.7377#0145

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Augusfe Rodin—Paris.

AUGUSTE RODIN PARIS.

Marmor: »Badende am Ufer spielend«.

wie bei den meisten Künstlern von einer sich
in den Werken offenbarenden Entwicklung
reden. Die war innerlich und liegt zurück in
der Zeit, da ihr zur äußerlichen Manifestation
die materiellen Mittel fehlen. Seine künstle-
rische Persönlichkeit steht vom ersten unter
seinem Namen laufenden Werk mit der Wirk-
lichkeitskraft einer Tatsache abgeschlossen da
und beweist sich von da ab immer nur wieder
in jedem Werke von neuem.

Man kann ihn heute bereits historisch be-
trachten. Er selber tut es, und es gehört zum
Reizvollsten und Lehrreichsten, ihm dabei zu-
zuhören.

Das Griechentum war die Ruhe, die Renais-
sance eine ausladende Geste, die Gegenwart
ist ständig wechselnde, unendlich variable mo-
mentane Bewegung der Menschheit. So stellen
sie sich in ihrer Geschichte wie in ihrer Kunst
dar. Der griechische Mensch, unter einem
sonnigen Himmel lebend, von den günstigsten
Lebensbedingungen umgeben, ist der Begrün-
der der menschlichen Ästhetik. Der von der
Notdurft des Lebens nicht berührte Körper
veredelt sich, gewinnt etwas Aristokratisches,
ja es ist ohne Zweifel wohl dieser Art, daß die

Leidenschaften im nicht äußerlich Kämpf enden
und Leidenden mehr sich als eigen geartete
Ruhezustände äußern denn als selbständige
Bewegung. Die Heftigkeit des Äschylos im
Tragischen ist eigentlich ungriechisch, die tief-
gründige Psychologie des Euripides mit ihrem
Aufweisen nacktester Menschlichkeit war den
Athenern unsympatisch und wurde durch Aris-
tophanes höhnisch verspottet. Diese Artung
des Griechentums, dem ja die Götterideale
Menschen waren und die Leidenschaft ein
Possenmotiv und eine Pöbelei, bestimmte von
vornherein die griechische Kunst. Sie ist wahr
in einem höchsten Sinne in dem, was sie zeigt,
aber sie ist unwahr trotzdem durch das , was
sie verschweigt. Eine außerordentliche Kennt-
nis des nackten Menschen ebenso wie des Be-
kleideten steht hinter ihr. Das griechische
Auge ist ein realistisches , es sieht die Wirk-
lichkeit , aber es sieht sie nicht ganz. Rodin
erkennt den Realismus des Griechentums an
und bekennt sich selbst als seinen Schüler.
Aber Generationen sind gekommen und ge-
gangen , und das menschliche Auge hat die
Fähigkeit verloren, das Leben als eine Auf-
einanderfolge von Zuständen, von Ruhen zu

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