Aususte Rodin—Paris:
AUGUSTE RODIN -PARIS.
Marmorplastik: »Der Frühling Leben weckend«.
sehen, genau so wie der Mensch überhaupt
die Fähigkeit verloren hat, ein solches Leben
zu führen. Im letzten Grunde war der Grieche
sehr wohl ein Egoist, aber niemals ein Indivi-
dualist ; er war nie ein Ich, sondern immer
ein Grieche, sein Griechentum war seine
Welt, in sich hat er eine andere nicht, er war
sich bewußt im Gehen, Stehen und Handeln
und in jedem Moment von tausend Augen
beobachtet zu werden — die griechische
frauenhafte Eitelkeit, durch Jacob Burkhard
zuerst enthüllt, ist uns Heutigen unverständlich
— und er lebte und posierte, ohne dabei ein
Schauspieler zu sein, für diese tausend Augen.
Das hat die griechische Kunst mit einer ewigen
Vollendung gefaßt, die vielleicht ihresgleichen
niemals wieder finden wird,
Dann kam das Christentum und trug in das
Leben der Völker den Begriff der Seele hinein,
den das Griechentum nicht kennen wollte.
Denken und Empfinden, Freuden und Leiden
waren keine Funktionen selbstverständlicher
Art mehr des körperlichen Organismus, sondern
Fähigkeiten und Äußerungen einer geheimnis-
vollen Macht, der Seele eben, die, stärker
als der Körper, diesen formt und bildet. Als
etwas Unfaßbares und Methaphysisches der
Kunst nicht direkt erreichbar, mußte sie durch
dieselbe in ihrem Einflüsse auf das Physische
gehalten werden. Die Kunst der Renaissance
ist der Ausdruck dieses Hineintragens der
Seele in das griechische Heidentum. Der Zu-
stand ist noch immer vom Griechentum über-
nommen, ruhig sitzt Colleone auf seinem
riesigen Schlachtrosse, ruhig steht der David
des Michelangelo da. Aber die Geste, die
körperliche Äußerung des seelischen Zustandes
ist hinzugekommen. David hält die Schleuder,
in Kopf und Körperhaltung bebt die Spannung
des kommenden Kampfes.
Die Plastik der Gegenwart sah sich vor eine
neue Aufgabe gestellt. Das Leben war wieder
neu geworden, gewann, was es an Innerlich-
keit verlor, an Achtung vor sich selber. Der
moderne Mensch ist ein Individualist ganz
eigener Art, er reckt sich nicht wie der Renais-
sancemensch als eiserner Eroberer in seine
Zeit, sondern er lebt eben diese Zeit ganz mit
seiner Persönlichkeit. Das bedeutet eine Be-
schleunigung des Lebenstempos , die von der
Ruhe des Griechentums weit entfernt ist, aber
auch zur Geste der Renaissance selten die Zeit
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AUGUSTE RODIN -PARIS.
Marmorplastik: »Der Frühling Leben weckend«.
sehen, genau so wie der Mensch überhaupt
die Fähigkeit verloren hat, ein solches Leben
zu führen. Im letzten Grunde war der Grieche
sehr wohl ein Egoist, aber niemals ein Indivi-
dualist ; er war nie ein Ich, sondern immer
ein Grieche, sein Griechentum war seine
Welt, in sich hat er eine andere nicht, er war
sich bewußt im Gehen, Stehen und Handeln
und in jedem Moment von tausend Augen
beobachtet zu werden — die griechische
frauenhafte Eitelkeit, durch Jacob Burkhard
zuerst enthüllt, ist uns Heutigen unverständlich
— und er lebte und posierte, ohne dabei ein
Schauspieler zu sein, für diese tausend Augen.
Das hat die griechische Kunst mit einer ewigen
Vollendung gefaßt, die vielleicht ihresgleichen
niemals wieder finden wird,
Dann kam das Christentum und trug in das
Leben der Völker den Begriff der Seele hinein,
den das Griechentum nicht kennen wollte.
Denken und Empfinden, Freuden und Leiden
waren keine Funktionen selbstverständlicher
Art mehr des körperlichen Organismus, sondern
Fähigkeiten und Äußerungen einer geheimnis-
vollen Macht, der Seele eben, die, stärker
als der Körper, diesen formt und bildet. Als
etwas Unfaßbares und Methaphysisches der
Kunst nicht direkt erreichbar, mußte sie durch
dieselbe in ihrem Einflüsse auf das Physische
gehalten werden. Die Kunst der Renaissance
ist der Ausdruck dieses Hineintragens der
Seele in das griechische Heidentum. Der Zu-
stand ist noch immer vom Griechentum über-
nommen, ruhig sitzt Colleone auf seinem
riesigen Schlachtrosse, ruhig steht der David
des Michelangelo da. Aber die Geste, die
körperliche Äußerung des seelischen Zustandes
ist hinzugekommen. David hält die Schleuder,
in Kopf und Körperhaltung bebt die Spannung
des kommenden Kampfes.
Die Plastik der Gegenwart sah sich vor eine
neue Aufgabe gestellt. Das Leben war wieder
neu geworden, gewann, was es an Innerlich-
keit verlor, an Achtung vor sich selber. Der
moderne Mensch ist ein Individualist ganz
eigener Art, er reckt sich nicht wie der Renais-
sancemensch als eiserner Eroberer in seine
Zeit, sondern er lebt eben diese Zeit ganz mit
seiner Persönlichkeit. Das bedeutet eine Be-
schleunigung des Lebenstempos , die von der
Ruhe des Griechentums weit entfernt ist, aber
auch zur Geste der Renaissance selten die Zeit
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