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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 25.1909-1910

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Westheim, Paul: Soziale Verpflichtungen des Kunstgewerblers
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https://doi.org/10.11588/diglit.7377#0158

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Paul Westheim :

A. POSSKNIIACHER MUJS'CHEN-HERI.IN.

Damenzimmer. Atlantik-Hotel, Hamburg.

monische Stilisierung. Jene latenten Triebe,
die ungebärdig, kaum bewußt im Schöße der
Gesellschaft emporzüngeln, verlangen nach
dem denkenden Organ, das sie gestaltend be-
stimmt. Ein Diener der Notdurft, ist in seine
Hand die Macht gegeben, dem profanen Da-
sein Würde und Form zu verleihen. Das künst-
lerische Selbstbestimmungsrecht ist ihm be-
schnitten, damit seiner sozialen Mission die
Wirkung ins Breite und Weite nicht mangele.

Zweckmäßigkeit, Brauchbarkeit,
Sachlichkeit wird von dem gewerblichen
Gegenstand gefordert. Er soll nützlich sein,
soll seinem Verwender aufs Beste dienen.
Durch Behaglichkeit und Bequemlichkeit soll
er den Gebrauch zu einer Freude machen.
Und wir glauben in ihm einen Abglanz von
Schönheit zu verspüren, wenn er diesen un-
seren Interessen die vornehme Befriedigung
gewährt. Eine rein ästhetische Betrachtungs-
weise vermag vielleicht in Konflikt zu geraten,
wo sie die künstlerische Form der zweck-
volleren opfern soll, wo dem heiteren Spiel

der Phantasie zu gunsten der Handlichkeit Ein-
halt geboten werden müßte. Aber ein Ver-
fahren, das Gebrauchsgegenstände nur als
Anschauungswerte zu genießen und zu be-
urteilen sucht, wird immer blindlings neben den
Kern des Problems tasten. Wer wollte vor dem
Moses des Michelangelo, vor den Dürerschen
Aposteln nach dem gemeinen Zweck fragen;
und wer könnte das unterlassen gegenüber
einem Bett, einem Ofen, einem Tisch?

Geradezu physisch erzwingt ein solcher
Gegenstand Erwägungen dieser Art. Ein Stuhl
mahnt uns rein körperlich, festzustellen, ob
sein Hersteller jede Möglichkeit aufgeboten
hat, ihn aufs Beste unseren Bedürfnissen an-
zupassen. Die letzte Nuance an Behaglichkeit
wird erwünscht und wo wir sie missen, sinkt
unweigerlich unsere Wertschätzung. Weder
Form, noch Farbe, weder Aufmachung, noch
Kostbarkeit vermögen uns darüber zu trösten.
Nichts kann uns über die Tatsache hinweg-
bringen, daß hier eine Aufgabe unzulänglich ge-
löst worden ist. Ungetrübte Fre'ude'stellt

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