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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 25.1909-1910

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Roessler, Arthur: Georg Minne
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https://doi.org/10.11588/diglit.7377#0255

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GEORGE MINNE.

Als ich das erste Mal die pfeilerhaft steil-
L aufragenden Umrißlinien von Minnes
marmorn weißblinkenden knieenden Knaben
sah, erinnerte ich mich der Worte aus Stefan
George „Altchristlicher Erscheinung": „Man
erwartete die Segnung des Knaben Elidius. Er
mit seiner sündigen Schönheit, kniete nun nackt
und schlicht, und als ob er allein wäre, auf dem
erhöhten vergitterten Chor: die Stirne in An-
dacht tief geneigt und in einen Mantel von
Schatten und Weihrauch gehüllt. Während in
der Seitenkapelle sich die Oberhirten und
Priester berieten, ob ihm die Heiligung zu
gewähren sei, murmelten weiße Gestalten an
den Altären lange Litaneien, und das Volk
schaute und harrte unter stummen Gebeten."
So durchaus sakral wirkte das monumentale
Steingebilde, vor dem ich staunend stand.
Zuvor hatte ich dann und wann eine Zeich-
nung, einen Holzschnitt von Minne in einem
belgischen Buche und in Heften der „Insel"
gesehen, und mir dabei schon immer gedacht:

das sind doch Arbeiten eines Bildhauers. Nun
sah ich den Bildhauer und andere sahen ihn
mit mir. Dies geschah in Wien.

Irgendwann, irgendwo und irgendwie, hatte
Meier-Graefe einmal einige zeichnerische und
bildnerische Arbeiten von Minne gesehen, und
mit seiner feinen Witterung in ihnen sogleich
die Hand des meisterlichen Künstlers erkannt.
Gleich darauf führte der Weg Meier-Graefe
nach Wien und in den Kreis der Sezessionisten.
Übervoll des neuen und starken Eindruckes,
warb er in eindringlicher Rede um Anteilnahme
für den „neuen, den kommenden Mann in der
Plastik". Professor J. Hoffmann vernahm die
Kunde, fuhr nach Brüssel und brachte Minnes
Brunnen nach Wien. Minnes erstes öffent-
liches Auftreten vollzog sich also in der Wiener
Sezession. Minne berührte das Publikum als
Fremdling und durch seine ganze Art be-
fremdend. Der Menschenschlag, für den das
Barock der wesensgemäße formale Ausdruck zu
sein schien, der sein lebhaftestes Ergötzen an

1910. IV. 2.

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