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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 26.1910

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Westheim, Paul: Probleme des Städtebaus
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https://doi.org/10.11588/diglit.7378#0071

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Probleme des Städtebaus.

A.RCH1

ntKT KMANDF.I. J. MARGOLÜ

AUSFÜHRUNG : DEKICHS & SAUERTEIG COBURG.

Konsequent ist in dieser ganzen Städtebau-
Politik nur ein Gedanke durchgeführt: Die
Ausschaltung der Persönlichkeit. Die
letzte groß gedachte und großzügige Anlage
War König Ludwigs Erweiterung Münchens.
Dann kam der bürgerliche Stadtvätergeist, der
überall der Entwicklung um ein paar Ellen
nachhinkte und von Subalternbeamten Viertel-
chen um Viertelchen ankleistern ließ. Und
schließlich ist man entrüstet über die Unerträg-
lichkeit der subalternen Lösungen! Im Grunde
genommen ist das Preisausschreiben „Groß-
Berlin" nichts als ein Notschrei nach der Per-
sönlichkeit. Aber auch hier ist die Situation
nur zur Hälfte begriffen worden, denn noch
zeigt sich keinerlei Neigung, der schöpferischen
Persönlichkeit auch die Aus- und Durchfüh-
rung zu übertragen. Pläne, Zeichnungen, Pa-
pierarbeiten werden gefordert. Man wünscht
Anregungen, mit denen die beamteten Stadt-
baugeister noch fünfzig Jahre fortwursteln
können, bis unseren Enkeln die Not so auf
den Fingern brennt, daß sie sich mit den
zwanzigfacheren Opfern zu den Radikalmitteln
gezwungen sehen, vor denen wir uns allzu
kleingeistig scheuen. Dumpf ahnt man schon
den einzigen Retter in der machtvollen Per-
sönlichkeit; aber man will ihre Kühnheit bän-
digen, ihre Wucht unschädlich machen, indem
man ihren Geist in den Spiritus der papiernen
Anregungen setzt und diese konservierten
Ideen je nach Bedarf benutzt — wenn neue
Verhältnisse schon wieder andere Lösungen
verlangen werden.

Den Architekten und Architekturbeamten
ist ja zuzugeben, daß ihre Lage gegenüber den

anwachsenden Großstädten keine leichte war.
Das 19. Jahrhundert hatte sie erzogen, nach
historischen Schemen zu arbeiten, und für die
Großstadt war kein Schema vorhan-
den, an das sie sich hätten halten können.
Im Altertum und im Mittelalter gab es keine
Städte von der Ausdehnung, wie sie nun zu
schaffen waren. Bis zum Jahre 1800 hatte
Deutschland keine Stadt mit 200 000 Einwoh-
nern aufzuweisen. Und die Ziffern der nach-
folgenden Statistik zeigen, wie neu dasProblem
für Europa überhaupt gewesen :

GROSS-STÄDTE

100000 Einwohner: 1800 1850 1870 1905

Deutschland .... 2 5 10 41

Frankreich..... 3 5 9 15

Großbritannien. . . 2 11 18 40

Italien....... 5 8 10 12

Österreich-Ungarn .14 4 8

Rußland...... 3 4 G 17

in Europa..... 21 42 70 159

Damit stand man plötzlich vor einem gewal-
tigen Fragenkomplex, für den es weder Vor-
lagenwerke, weder Motivensammlungen noch
Gewerbemuseums - Muster gab. Außerdem
war die Zeit beherrscht von einer lebhaften
und heftigen Mißstimmung gegen die großen
Städte überhaupt. Wie man etwa vor 100
Jahren die Anlage oder den Ausbau einer
Großstadt dachte, zeigt charakteristisch ein
anonymes Werk : Plans de villes, das mir
der Zufall kürzlich in die Hände spielte. Da
gibt es sechs Typen. Die barock gehaltenen
Pläne sind alle streng geometrisch. Im Zentrum
liegt entweder ein monumentales Regierungs-

1910. VII. 7.

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