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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 26.1910

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Michel, Wilhelm: Das Elend der Illustration
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https://doi.org/10.11588/diglit.7378#0306

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Das Elend der Illustration.

heutigen Illustratoren haben das Erzählen voll-
ständig verlernt. Was den Kindern da geboten
wird, muß ihnen fast restlos als unverständ-
liches Kauderwelsch erscheinen. Höchstens
existiert noch eine bildliche Ausdrucksweise
für die Allerkleinsten, die sich in naiven Um-
rissen und kräftigen, wirksamen Farbenarran-
gements ergeht. Aber gerade das Alter, für
dasbeispielsweise dieMärchenAndersens oder
die Erzählungen aus Tausend und eine Nacht
in Betracht kommen, geht leer aus. Erstens
versuchen es die Künstler schon gar nicht,
dieBegebenheitennachzuerzählen, sondern
sie beschränken sich auf eine Art von er-
weitertem Buchschmuck. Zweitens, wenn
sie es doch versuchen, dann zerstört ihnen
das Schwarz-Weiß-Prinzip, das alle Graphik
beherrscht, jede echt epische Wirkung. Sie
bieten dann vielleicht Lyrik, aber keine Er-
zählung. Für das Tatsächliche eines Vorganges
scheinen sie sich nicht zu interessieren, sondern
nur für die künstlerisch-technische Seite der

Sache. Sie stellen sekundäre Atelierprobleme
immer und ewig in den Vordergrund.

Es wäre aber sehr verkehrt, wenn man
diese Mängel nur der Märchenillustration zu-
schreiben wollte. Sie haften der ganzen heu-
tigen Illustrationsweise an. Man kann sagen:
So viele Versuche man auch neuerdings mit
dem illustrierten Buche gemacht hat, so be-
sitzen wir doch nicht das, was man moderne
Buchillustration nennen kann.

Und nun entsteht die Frage nach den Grün-
den. Sie sind teils innerer, teils äußererArt, teils
psychologischen, teils technischen Ursprungs.

Die Haupttugend des Illustrators ist das
Erzählenkönnen. Erzählen kann aber nur der,
der einen scharfen Blick für das Tatsächliche,
eine geläufige, dem Schreiben verwandte Aus-
drucksweise und die Gabe treffender Poin-
tierung besitzt. Keine dieser Vorbedingungen
wird vom modernen Illustrator erfüllt. Er hat
keinen Blick für das Tatsächliche, weil er sich
nicht dafür interessiert, weil er es im innersten

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