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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 52.1923

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Kuhn, Alfred: Augusta von Zitzewitz - Berlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.9145#0125

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AUGUSTA
V. ZITZEWITZ.
»BILDNIS
DER MUTTER<

AUGUSTA VON ZITZEWITZ-BERLIN.

In Deutschland haben heute viele Talent, einige
Können, wenige Geschmack. Zu diesen letz-
teren gehört Augusta von Zitzewitz.

Das revolutionäre Genie mit den brandroten
Haaren und dem finsteren Verschwörerblick
ist erstaunlich häufig; vulkanisches Gebären,
ekstatische Weltzertrümmerung sind leicht für
jene, die nicht Blut noch Tradition mit einer
vergangenen Kultur verbindet. In den unver-
brauchten Schichten der Neuen, zum Lichte
Drängenden, rast blindwütend der göttliche
Brand, daß vielleicht da oder dort die weiße
Flamme den Himmel berühre.

Anders bei den Abkömmlingen alter Ge-
schlechter. Selten besitzen sie Genie. In langen
Jahrhundertreihen haben sie sich ausgegeben,
in viele Kanäle floß ihre Kraft, wohl ausgenützt
in der Maschinerie des öffentlichen Lebens.
Was an Kunstsinn vorhanden, ward umgesetzt
zur Erhöhung des Daseins. Wildes Genietum
war verpönt. Das Volk mochte es sich ge-
statten, dem Mann von Welt stand es nicht an.
Wer trieb nicht schöne Künste im 18. Jahrhun-

dert? Wer reimte nicht geschmackvoll, zeich-
nete nicht mit einiger Sicherheit, wer wußte
nicht mit Anstand eine Arie vorzutragen, im
Duett dem Partner die Spitze zu bieten? Jener
Dilettantismus des dix-huitieme, den Goethe
so hoch bewertete, daß er es als durchaus ge-
rechtfertigt empfand, die Gedichte einer jungen
Verehrerin jenen seines westöstlichen Divans
einzugliedern, besaß den souveränen Ge-
schmack, der im Grunde der Träger jeder Kultur
ist, und der heute ausgestorben zu sein scheint.

Denn Geschmack gehört zu den wenigen
Dingen, die sich nicht erwerben lassen. Durch
Generationen hindurch muß er gezüchtet wer-
den, er baut sich langsam auf und ist nur dann
sicher, wenn er über weite Bahnen gekommen.
Gewiß, man kann sich guten Geschmack auch
anerziehen. Ein kluger Kopf, ein offener Sinn
tun gar viel, aber man kann die Sicherheit
des Geschmacks nicht dazu erwerben, die Mög-
lichkeit, ab und zu auch einmal mit Genuß ge-
schmacklos zu sein, und doch keinen Augenblick
dabei den guten Geschmack zu verleugnen.

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XXVI. Juni 192J. 1
 
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