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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 52.1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.9145#0188

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die bereits seelenhaften Bestandteile des
Kunstwerks zu entziffern und für die Gesamt-
deutung zu verwerten, also denBewegungs- und
Gesichtsausdruck der dargestellten Personen,
ihre handelnden Beziehungen zu einander usw.
Die heutige Kunstentzifferung dagegen weiß
über den Symbolwert auch der stummeren Dinge
Bescheid und versteht daraus sehr weitgehende
Schlüsse zu ziehen. Sie faßt die symbolische
Bedeutung der Linien und Farben ins Auge, sie
liest die Komposition, die Verteilung von Licht
und Dunkel physiognomisch ab. Sie kennt
schreiende, gellende, feindselige Linienführun-
gen, sie liest Seelisches aus der überschärften
oder abgestumpften Perspektive, sie diagnosti-
ziert böse oder himmlische Erregungen aus den
Farben. Sie weiß, daß die horizontale Kompo-
sition eine ganz andere weltanschauliche Be-
deutung hat als die vertikale, sie weiß, daß die
eine Art der Figurenbehandlung auf hohen ide-
alistischen Geistesflug, die andere auf Naturver-
haftung und pantheistische Religiosität schließen
läßt. Sie weiß, daß allein in der farbigen Be-

handlung, sogar in der Pinselführung Unter-
schiede des Weltgefühls, der geistigen Grund-
entscheidung hervortreten, die klar erkennbar
werden, sobald man die physiognomischen Ge-
setze der malerischen Weltdeutung gefaßt hat.

Fruchtbar wird diese neue Art Kunstdeutung
nicht nur für das Verhältnis des Einzelnen zum
Kunstwerk, sondern insbesondere auch für die
Ergreifung des inneren Sinnes der verschiedenen
geschichtlichen Kunstperioden. Wir haben in
diese Abläufe heute geistige Einblicke viel wei-
terer und tieferer Art als die Generationen vor
uns. Und wenn es auch richtig ist, daß wir
diese Erweiterung unserer Einsicht mit dem
allgemeinen, überwuchernden Psychologismus
schwer genug bezahlt haben, wenn wir uns auch
sagen müssen, daß mit ihr eine gewisse Schwäch-
ung des schöpferischen Vermögens eng zu-
sammenhängt : wir sollen ein Gut doch schätzen,
wenn es uns zufällt, wir sollen dankbar sein, daß
wenigstens unserer Erkenntnis zugute kommt,
was wir auf dem Gebiet des schaffenden Lebens
als eine Einbuße empfinden.

HEINRICH BITTER.

GRABKIRCHE IN CAVTAT. »FRIES-ORNAMENT« (41)
 
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