Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 52.1923

DOI Artikel:
Michel, Wilhelm: Ausstellung "Deutsche Kunst 1923" Darmstadt
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.9145#0192

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Ausstellung -»Deutsche Kunst 19231. Darmstadt.

»SAN GIMIGNANO« 1922.

kommt seine Weltlosigkeit, die weder ein wahres
Objekt noch ein wahres Subjekt kennt. Er hat
keine Welt. Er ist die endgültige Vereinsamung
des Ichs im Universum, die völlige Erblindung,
die radikale Verschluckung des Du in den un-
ausfüllbaren Abgründen des falsch eingestellten
Ego. Der Entwicklungswert des Expressionis-
mus bestand darin, daß er der Übermächtigung
des Ichs durch die Umwelt die Tyrannei des
Ichs über alles Objektive entgegensetzte. Aber
das eine bedeutet so gut wie das andre die
Zerstörung jedes wahren Weltbildes, die Unter-
wühlung aller Wirklichkeit. Aufbruch zur Wirk-
lichkeit ist das Gebot der Stunde; Wirklichkeit,
die nicht etwa die des Naturalismus ist, son-
dern ein Ernstnehmen der objektiven Dinge
aufgrund einer sinnvollen, gläubigen, hingeben-
den Beziehung des Ichs zum Du. Diesen Auf-
bruch zur Wirklichkeit hat unsre Welt, und mit
ihr die Kunst, noch nicht vollzogen. Daher das
andauernd Zweifelhafte, Knappe und Dürftige
unsrer Produktion; eine Lage, die wir wohl
oder übel durchleiden müssen, um wenigstens
im Leiden (und durch das Leiden) der großen
Anforderung inne zu werden, die an uns ge-
stellt ist: in einer Welt zu leben, nicht unter
Gespenstern und Larven.

Von hier aus wird die Kollektion Alexander
Kanoldt zu einer der bemerkenswertesten
Darbietungen der Ausstellung. Seine Stilleben
haben eine strenge, düstere Sachlichkeit, eine
scharfe Bestimmtheit, in der gewissermaßen der
Schrecken vor dem durchwanderten Chaos noch
nachzittert. Es ist noch kein freies, gesichertes
Verhältnis zum Ding. Es ist noch kein klares,
glückliches Sehen, sondern einüberscharfes
Sichten der Gegenstände, ein Spähen wie
mit bewaffnetem Auge, ein bewußtes Organi-

ALEXANDER KANOLDT.

nehmungen ähnlichen Programms ebenfalls nur
zu halben Ergebnissen gekommen sind. Der
einzige Punkt, von dem aus dieses Ergebnis
leicht zu bessern und zu heben gewesen wäre,
ist das Hängen. Man hat in Darmstadt nicht
günstig gehängt. Der sogenannte Ehrensaal ist
schwach in der Gesamtwirkung. Das einge-
laufene Material war zu knapp, um gefüllte
Räume zu ergeben, und so wurde alles ausein-
andergezogen. Es wirkt verstimmend, daß sich
an den ersten Saal gleich mehrere Säle mit
Graphik anschließen. Mehrfach findet man Kol-
lektionen nebeneinander, die sich in der Wir-
kung gegenseitig beeinträchtigen. Gelungen ist
nur der zweite Oberlichtsaal, der die Kollek-
tionen Kanoldt, Davringhausen, Dix,
Mense, Schrimpf, Kirchner u. a. zu einer
guten Gesamtwirkung vereinigt.

Bei der Beurteilung des Ergebnisses muß in
Anschlag gebracht werden, daß unsre künst-
lerische Produktion immer noch unter der Un-
gunst der Zeit, ihres Geistes sowohl wie ihrer
materiellen Schwierigkeiten leidet. Die allge-
meine geistige Krise der Gegenwart, bei uns
sehr verschärft durch die Kriegsfolgen, legt be-
sonders auf die Kunst einen schweren, nach-
haltigen Druck. Die weltanschaulichen Ent-
scheidungen, die eines Tages aus der expres-
sionistischen Sackgasse herausführen müssen,
sind in den meisten Gemütern noch nicht ge-
fallen, und was uns an Zeitwirklichkeit umgibt,
ist in der Tat wenig geeignet, diese befreienden
Entscheidungen zu fördern. Die Krise, in der
sich der Expressionismus seit Jahren nun ab-
quält, ist die Krise des Ichs und seiner Be-
ziehungen zur Umwelt. Der Expressionismus
ist an seiner Fehlbewertung des leeren, um-
mauerten Ich hoffnungslos erkrankt. Aus ihr
 
Annotationen