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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 52.1923

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Ewald, Reinhold: Der Altar des Michael Pacher
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https://doi.org/10.11588/diglit.9145#0226

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Der Altar des Michael Packer.

die Frage: gibt es eine Ästhetik des Nordens,
und gesetzt ja: wo tritt sie klar zu Tage? —

Es gibt auch heute noch, wie damals einen
Kampf der Auswirkung des Objekts in der
Natur gegen die Tatsächlichkeit des Objekts.
Diese Auswirkung, die das nordische Blut ver-
langt, fordert den Begriff der zeitlichen Wir-
kung. Dem gegenüber steht die Tatsächlichkeit
des Objekts der Romanen, mit der Berufung
auf pathetischen Zustand. Ein sachliches Bei-
spiel wäre folgendes: der Italiener (Romane,
von Raffael bis Picasso) malt die Mutter, d i e
Madonna; Donatello baut den Fürsten zu Pferd,
das Reiterstandbild; der gallisch-germani-
sche Geist dagegen gibt das Mütterliche
der Mütter, das Reiten statt des Reiters, das
Fürstliche wie im Bamberger König statt des
Fürsten, die Wirkung, den Streit, die Gescheh-
nisse zwischen den Aposteln des Chors daselbst
anstatt der Apostel selber. Des Weiteren: ein
Mantegna, ein Tintoretto malt den Vorgang der
Himmelfahrt Christi, die Tatsächlichkeit der
Illusion; ein Meister von Wittingau, ein älterer
Holbein (im Städel zu Frankfurt a. M.) malt
die dauernde Auswirkung dieses Geschehnisses,
— nicht seine Tatsächlichkeit, seine Illusion.

Die theoretischen Möglichkeilen der Ro-
manen bei Zustand, Tatsache, sind etwa: bei
der „Schule von Athen" von Raffael das Pa-
thos des wohlig gemessenen Raums, bei Leo-
nardo's „Madonnain der Felsgrotte" (imLouvre)
die formal gefüllte, pathetische Pyramide, bei
dessen „Himmelfahrt" (in Berlin) der Diagonal-
raum, bei Signorelli's „Panbild" (in Berlin) der
meßbare pathetische Raum mit Vollform und
Hohlform, bei Tizian's „Himmelfahrt" (in der
Akademie in Venedig) die pathetische Tatsäch-
lichkeit einer Illusion. All dies scheint irdisch
gebunden, materiell bedingt, auf den Mensch-
gott der Antike hinweisend.

Die nordische Theorie: — „Gott in der Ma-
terie ist Geist, und die Künstler, die diese Ma-
terie anbeten, müssen sie im Geist anbeten" —
zielt auf den Gottmenschen. Die Theorie
der Romanen ist hier nicht anwendbar, ein
Hildebrand, ein Feuerbach und Marees haben
diesem Geist um keinen Deut genutzt. Statt
eines pathetischen Raums der Italiener: die
Verflechtung zweier verschiedener Raum-
systeme, die relativ zueinander entstehen oder
vergehen, wie bei der „Himmelfahrt" des Hol-
bein im Städel. Dies Entstehen und Vergehen
löst zeitliche Wirkung aus, — dauert. Statt
des farbigen Kosmos der Madonna Raffaels,
bei der Lazaruserweckung des Michael Pacher
drei in sich geschlossene Farbsysteme
von gegensätzlichem Ausdruck, die wechsel-

seitig den Bildraum zu erfüllen scheinen, relativ
zueinander entstehen und vergehen. Maß-
gebende Regeln, sachliche Festlegungen, die
wie beim Italiener immer wiederkehren, gibt es
beim nordischen Künstler nicht. Ausgangspunkt
dieser jedoch immer vorhandenen Färb- und
Raumsysteme (selbst bei Einzelfiguren wie Cra-
nachs Venusbildern oder dem Christophorus
des Pacher) ist jedesmal neu die Zwiesprache
des Künstlers mit der anregenden Natur. Fleisch
und Geist, — stärkster Naturalismus und zu-
gleich kühnste Abstraktion.

Dies erfüllt in hohem Maße der Wolfganger
Altar. Er besteht aus dem geschnitzten Mittel-
schrein mit der Krönung Mariä und den Heiligen
Wolfgang und Benedikt, dem Aufsatz des Mittel-
schreins mit der Kreuzigung Christi und den
Außenfiguren der Heiligen Georg und Florian,
je zwei Innen- und Außenflügeln, die beider-
seitig bemalt sind.

Die Hauptfiguren des Mittelschreins sind tief
bewegt und raumplastisch empfunden. In einem
reinen Wirbelsturm von kreiselnden, rauschen-
den, brechenden Gewändern, kleinen tosenden
Engeln, die sich taumelnd drehen, fliegen und
mit dem Filigran der Sockel, Gestänge, der
Kronen, Haarflechten und Symbolen den Tie-
fenraum in ganz verschiedenen Tempi in Be-
wegung setzen, vom Sturm bis zum leisesten
Erzittern, stehen übermächtig mit kolossalem
Pathos die Großfiguren. Der Schrein ist ganz
vergoldet, Hände, Köpfe und Teile der Gewan-
dung sind farbig naturalistisch bemalt: Gold
gegen blasse Gesichtstöne und Violett. Details,
insbesondere der Köpfe, sind bis ins Äußerste
abgestreichelt und formal und farbig durchge-
fühlt. Ob Pacher diese Hauptfiguren selber ge-
schnitzt hat, ist noch nicht festzustellen; zu-
mindest sind sie von ihm fertiggestellt und wohl
ganz von ihm angegeben worden. Der Orna-
mentschnitzer scheint ein anderer gewesen zu
sein. Auch die vorderen isolierten Engel und
manche der Kleinfiguren scheinen von einem
anderen Meister oder Gehilfen gefertigt.

Sind beide Flügelpaare geöffnet, so erblickt
man vier Tafeln von unstreitig Pacher's eigener
Hand. Die „Beschneidung Christi" ist von un-
sagbarer Kostbarkeit. Der sichtbare Bildraum
ist nicht wie bei Mantegna nach einem Ge-
sichtspunkt orientiert, sondern von zwei ganz
entgegengesetztenRaumkosmen,Raumsystemen
beherrscht. Dies zeigt sich etwa folgender-
maßen: der feierliche Priester in Brokat und
hohem Ornat nimmt tiefernst die Handlung vor.
Er bestimmt von der Mitte des Bildraumes aus
den Kosmos des Ernstes, der Statik und der
Festigkeit. Hierzu gesellen sich der vordere
 
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