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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 52.1923

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Horst-Schulze, Paul: Stickereien von Lilli Vetter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9145#0375

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STICKEREIEN V

Vielleicht muß man gleich obenan schreiben:
„Lilli Vetter ist keine Stickerin, sie ist bloß
ein Künstler", und doch ist sie gerade ein
Handwerker, ein so eminenter, der nie fehlt.
Ebensogut könnte man wohl auch sagen: sie ist
ja gar keine Malerin, und doch ist in ihren Ar-
beiten die Farbe so rein der Träger ihrer Emp-
findung, wie fast bei niemand heute.

Wer es einst unternehmen wird, die Wertung
der Kunst und des Kunstgewerbes dieser Tage
vorzunehmen, der wird vor der Erscheinung
Lilli Vetters in arge Bedrängnis geraten. Nir-
gendwo will sie hereinpassen, nirgends ver-
wandt sein, nirgends mag sie zur Unnatur ge-
hören und wird doch diejenige sein, die an
erster Stelle steht und mit ihrer Nadel jeden
Zwang gebrochen hat, den selbst edelstes
Handwerk dem hohen Wollen auferlegt.

Absichtlich vermeide ich hier von einzelnen
Arbeiten zu reden, kommt man doch allzuleicht
in ein unzulängliches Beschreibenwollen und
verliert den Zweck, für eine Kunst wie diese
hier Sinn und Verständnis zu wecken, die es
unternimmt, nur mit der kleinen, blanken Nadel
und mit den abertausenden kleinen Stichen
ein tiefes Innere zu enthüllen, ja eine Welt vor
uns auszubreiten. Das tut sie und das ist das
Staunenswerteste an Lilli Vetter.

Erst müssen wir alle Voreingenommenheit
wegräumen, jenes Gewöhntsein an das gewisse
Gewerbliche, das die Stickerei so vielfach hat,
oder jenes Auffallenwollen durch das Motiv,
das ja sowieso der Tod vieler guten Dinge ist;
vieler guten Dinge, die aus der Ausstellungsluft
herausgenommen, in ruhigem Zuhause jene
fremde Atmosphäre verbreiten und sie uns

N LILLI VETTER.

|

auch für alle Nachbardinge aufzwingen wollen.
— Erst wer stark genug fühlt, wie unzünftig die
Arbeiten Lilli Vetters sind, wird das trotzdem
Edle und Selbstverständliche ihres Handwerks
voll ermessen und von dieser edlen Zunft-
losigkeit aus allmählich den Faden finden in ihr
Wunderland, ihre Freiheit als Befreiung, ihre
Persönlichkeit als Naturkraft, ihre Fessellosig-
keit als streuenden Reichtum erfahren und so
die Beschäftigung mit ihrer Arbeit als beglük-
kendstes Geschehen tief empfinden.

Auf der Münchner Gewerbeschau war an
wenig bevorzugtem Platze ein Wandbehang
von ihr zu sehen, eine Aufnäharbeit teil-
weise reichgestickt, die mich als reichste Arbeit
dieser Ausstellung immer wieder an sich zog.
Ich entdeckte, daß es Anderen auch so erging
und weiß seitdem, daß es gilt, die Aufmerk-
samkeit auf solche Werke zu lenken, um die
Zahl der Anbeter vermehren zu helfen. Das
sollen und werden auch diese Zeilen tun, weil
sie den Lesern sagen, daß ein Berühren mit
solcher Zaubermacht, mit der Harmonie einer
befreiten Persönlichkeit, durch edelstes Hand-
werk selbstverständlich ausgesprochen, allen
Lebenssinn gelegt in eine kleine Nadel, ihr
eigenes Menschenglück tiefer macht.

Welchen Reichtum trägt uns ein Umschlag-
tuch Lilli Vetters entgegen, welche ernteschwere
Überfülle ohne Chaos, ohne Phrase — es ist
ein Schenken ohne Ende —. Welche Fülle
bekommen bei ihr Gold- und Silberfäden, welche
fast sinnbetörenden Reize hat ein Pantöffelchen
von ihrer Hand — schon ist man außer Raum
und Zeit und spinnt in sein Glänzen versunken
ein Märchen von einem jungen Herrscher, der
 
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