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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 54.1924

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Michel, Wilhelm: Der Gegenstand in der Malerei, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8536#0080

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Der Gegenstand in der Malerei.

MAURICE DE VLAM1NCK.

»LANDSCHAFT BEI PARIS«

wechselnder Intensität, aber ohne grundsätz-
lichen Zweifel. Ja, im Grunde hat sich dieses
Interesse insgeheim, trotz allen Widerspruchs
der Theorie, noch bis heute in Spuren erhalten.
Es hat auch zu unsern Tagen Maler extrem
„künstlerischer" Observanz gegeben, die im
Gegenständlichen ihrer Kunst eine deutliche
Wahl bekundeten und so durch die Praxis ver-
lautbarten, daß für sie durchaus nicht jedes
beliebige Objekt gleich anziehend war.

Mit viel mehr Schärfe sprechen sich freilich
vergangene Künstlerepochen über ihr Interesse
am Gegenstand aus. Fällt etwa der Impressio-
nismus den berühmten und für uns keineswegs
übermäßig kühnen Spruch, daß ein gutgemalter
Kohlkopf einer schlechtgemalten Madonna bei-
weitem vorzuziehen sei, so sagt Sukracharya
(Verfasser einer Anweisung für buddhistische
Künstler) genau das Gegenteil: „ Selbst ein häß-
liches Götterbild ist einem Menschenbild, sei
es auch noch so bezaubernd, vorzuziehen."
Ein moderner Inder, Ananda Cumaraswamy,
behandelt in seinem Buche „Shiwas Tanz"
unsere Frage ganz ausdrücklich mit Beziehung
auf die hinduistische und buddhistische Kunst:
„Fügen wir hier ein, daß die Absicht des Bild-
ners nicht die war, sich selbst auszudrücken

oder die Schönheit zu verwirklichen. Er wählte
nicht die zu lösenden Probleme, sondern er ge-
horchte wie der gotische Bildhauer einem ge-
heiligten Kanon. Er betrachtete sein Werk und
das seiner Kollegen nicht vom Standpunkt des
Philosophen oder des Ästheten, sondern vom
Standpunkt eines frommen Handwerkers. Für
ihn kam nur der Gegenstand in Betracht, und
wenn Schönheit in seinem Werk ist, so kommt
sie nicht aus einer künstlerischen Absicht, son-
dern aus einem Geisteszustand, der seinen un-
bewußten Ausdruck gefunden hat.

Zu allen Zeiten großer, schöpferischer Kunst
bemerken wir die gleiche Erscheinung: der
Künstler ist ausschließlich mit seinem Gegen-
stand beschäftigt. Nur wenn wir einen Blick
nach rückwärts werfen und uns mehr als Philo-
sophen denn als Künstler verhalten, sehen wir
die Schönheit in einem Kunstwerk als etwas
vom Gegenstand Unabhängiges. Und dann ver-
gessen wir leicht, daß, wenn Schönheit je er-
zielt wurde, dies nur der Fall war, weil man
den gebieterischen Drang empfand, einen ganz
besonderen Gegenstand zu behandeln. Wir
pflanzen uns vor einer Staffelei auf, wir schik-
ken uns an zu tanzen, ohne den Zwang zu
fühlen, um jeden Preis ^.klaren Ausdruck zu
 
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