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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 54.1924

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L., O.: Kunstverstand
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https://doi.org/10.11588/diglit.8536#0269

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RICHARD SEEW'AI.I)-MÜNCHEN.

»DER TRAUMENDE KNABE«

KUNSTVERSTAND.

Es ist eine eigenartige Erscheinung, daß es
im allgemeinen um die Urteilsfähigkeit in
Dingen der bildenden Kunst schlechter bestellt
ist als in vielen andern Geschmacksfragen. Wir
Leute vom Fach betonen zwar immer, daß die
Künste unter sich zusammenhängen. Wir sind
sogar der Meinung, daß es sich bei allem
Schaffen und Gestalten um „Kunst", d. h. um
Form handle. Aber in der Praxis sehen wir
bei unsern Mitmenschen in Fragen der Malerei
und Plastik eine erheblich größere Ratlosigkeit
als in andern Dingen. Schlagendes Beispiel:
es gibt Häuslichkeiten, die mit viel Geschmack
und Eleganz, sogar mit Raffinement aufgebaut
sind, aber an den Wänden tobt sich der wil-
deste Ungeschmack, die blindeste Urteilslosig-
keit aus. Man braucht da nur in eigene Er-
fahrungen hineinzugreifen. Vor Jahren lernte
ich das Heim eines Münchener Millionärs ken-
nen. Die Möbel waren von Bruno Paul und

Bernhard Pankok, die Tapeten auserlesen, Gar-
dinen, Teppiche, Stickereien von der besten
Qualität; aber an den Wänden hingen Farben-
drucke, noch dazu in protzigen Rahmen, da-
neben schlechteste Gemälde von namenlosen
Bilderfabrikanten, und auf Konsolen und Schrän-
ken trieb sich jene Sorte „Plastik" umher, die
von Straßenhändlern und sogenannten „Kunst-
handlungen" in Mengen verbreitet wird. Kürz-
lich kam ich in das Haus eines sehr vermögen-
den Bankiers. Auch hier großer und geschmack-
voller Aufwand in der Möblierung und sonstigen
Ausstattung. Was die bildende Kunst anlangt,
so hielt der Hausherr sich für einen „Mäzen".
„Ich kaufe nur Originale", erklärte er nicht
ohne Stolz. Aber diese Originale erwiesen sich
als elendeste Erzeugnisse provinzieller Bilder-
industrie; es war leere Effekthascherei, seelen-
los hingepinselter Kram ohne einen Funken
originaler Inspiration, der ja selbst einem an

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