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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 54.1924

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Geron, Heinrich: Das Wohnhaus als Zweckform
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https://doi.org/10.11588/diglit.8536#0352

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DAS WOHNHAUS ALS ZWECKFORM.

Von allen menschengeschaffenen Dingen
steht keines so sehr unter den Gesetzen
der Zweckform als des Erdgeborenen allererste
gestalthafte Notdurft, die Hausung, das Haus.
So sehr Gemeinplatz diese Anmerkung auch
sein mag, es ist heute schier notwendig gewor-
den, sie herauszustellen und zu erörtern. Auch
wenn es noch nicht so weit gekommen ist, daß
das Häuserbauen formspielerischenHänden und
Hirnen zur lediglichen Betätigung eines sich im
nutz- und zwecklos Schönen ergehenden Ge-
staltungstriebs anvertraut ist, festzustellen
bleibt, daß im Bereiche der Erörterung die
ästhetische Anschauungsweise überwiegt.

Ich bin gewiß der Letzte, der einem Kultus
der reinen geistgeborenen Schönheit entgegen
zu wollen vermöchte. Aber ich muß gestehen,
wenn ich mit Freunden über die Frage „heutige
Architektur und reine Ästhetik" ins Gespräch
komme, fühle ich mich stets auf die Gedanken-
bahnen der reinen praktischen Vernunft hinge-
drängt. Stand ich da jüngst mit einem Freunde
vor einem neuheitlichen Villenbau. „Entsetz-
lich", stöhnte der Mensch, „wie dieses Fenster
in der Wand sitzt, häßlich wie das Einauge des
Kyklopen, Polyphem mitten auf der Stirn; man
sollte jedem Architekten das Handwerk legen,
der nicht imstande ist, eine Fassade hinzu-
stellen, die uns anmutet wie ein harmonisches
menschliches Gesicht." Ich entgegnete: „Gewiß

sollte uns ein Haus anmuten wie ein harmoni-
sches menschliches Gesicht, da hast du recht,
aber es sollte es aus einer inneren organischen
Notwendigkeit, aus zweckhafter Zwangsläufig-
keit heraus tun. Nichts ist gerade ärger als das
Fassadenbauen, also eine Einstellung, die auf
der Plattform einer absolutistischen Ästhetik
lebendige Dinge außerhalb ihres Zusammen-
hanges betrachtet und gestaltet haben möchte.
Unsinniger Standpunkt ein Haus in vier schöne
Außenmauern bauen zu wollen, Fenster da hin-
zusetzen, wo sie undienlich sein können; das
Wesentliche ist doch der praktische Grundriß,
ja er ist alles; ein Haus, das den Bedürfnissen
eines normalen, gut und wahrhaft weltgesinnten
Wohners entsprechend angelegt, das richtig in
seinen inneren, nothaften Architektur-Verhält-
nissen, vernünftig in seinen von Außen beding-
ten Umständen erbaut ist, ist unbedingt in jedem
und jeglichem ästhetischen Sinne schön, ja es
muß es sein. Wenn z. B. dieses Fenster hier
wirklich falsch in der Fassade sitzt, dann liegt
es daran, daß das Haus von innen heraus ver-
fehlt ist. Entweder ist der Grundriß des Archi-
tekten verschoben und unpraktisch, oder der
Bauherr hat es eben nach verschrobenen Be-
dürfnissen gebaut." — Mein Freund schwieg.
Hatte ich ihn überzeugt? Oder hielt er es für
nutzlos, anzugehen gegen mein erdgebundenes
Anschauen der Dinge, mein „ Amerikanertutn" ?
 
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