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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 54.1924

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R., H.: Wiedergabe des Wirklichen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8536#0337

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ROB. E. STÜBNER—BERLIN.

GEMÄLDE VARIETE«

WIEDERGABE DES WIRKLICHEN.

Vor meinem Fenster steht eine alte, breite,
lustige Linde. Die meisten ihrer Zweige
sind noch winterlich grau, tot und stumm. Aber
an einigen, hoch droben im Wipfel und weit
neben am Seitenast, ist schon das Leben er-
wacht : rieselndes, schaumiges,gelbgrünesBlatt-
und Blättchenwerk, noch dünn, noch zart, ge-
kraust, gefältelt, kindhaft fröhlich. Das hält
der alte, graue Baum als einen Strauß Leben
in den blaßblauen Maihimmel, ein Windhauch
schwenkt das heitere Geschmeide, und es ist
alles schön; nein mehr als schön: lebendig,
kräftig; nein, mehr als kräftig: sinnvoll, ver-
nünftig, richtig. Es sind auch Tauben da, auf
dem niederen Dach, das die Lindenzweige über-
gittern. Der Tauber mit einem von Liebe und
Frühling mächtigen Blähhals, nickend, vielfer-
tig und vorsichtig an der offenen Regenrinne
füßelnd, die Taube immerfort auf einer nicht

ernstgemeinten Flucht, weil sie sich im gewohn-
ten Lebenstempo nicht stören lassen will. Es
ist ein Nichts, es ist das Alltägliche, das Wirk-
liche. Woher kommt die abgründige, ober-
flächliche, unvernünftige Lust am Wirklichen?
Was blickt denn aus uns so fröhlich, so neu-
gierig und verschwistert dieses uninteressante
Wirkliche an? Ich weiß es nicht. Aber jedes
Regen der Lindenzweige ist ein Geschenk, jedes
Aufblitzen eines Taubenflügels ein Glück. Es
ist etwas, jubelt ein Herz in uns. Es ist! Wir
stecken in lauter Istheit, es geht etwas vor, wir
sind nicht allein, wir leben und wir befinden
uns mitten in lauter Lebensbestätigungen, die
atmen und singen, tönen, scheinen und sich
regen. Und das möchte ich nachschreiben. Die
Hand möchte den Stift nehmen und Wirklich-
keit abschreiben. Auch das ist unvernünftig.
Aber warum habe ich denn diese Lust daran?

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