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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 54.1924

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Wolfradt, Willi: Das Gegenwartsproblem des Stillebens
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https://doi.org/10.11588/diglit.8536#0278

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DAS GEGENWARTSPROBLEM DES STILLEBENS.

(ZUR STILGESCHICHTE DER MODERNEN KUNST )

Einer der entscheidenden Grundsätze heu-
tiger Formgebung ist das Prinzip der
Konstruktivität. Galt bis vor kurzem freie
Natürlichkeit, lockere Zufälligkeit für die selbst-
verständliche Ordnung allen Gebildes, strebte
alle darstellende wie schmückende Kunst da-
nach, sich ungezwungen, in berechnungslos sich
darlebenden, organisch gewachsenen Formen
auszusprechen, derart, daß sogar in der Archi-
tektur jener Periode das Tektonische eher ver-
borgen als demonstriert worden ist, — so ist
es nun die Losung der Gegenwart geworden,
die formale Gesetzmäßigkeit, die künstliche
Faktur zu betonen und jedes Gebilde gerade-
zu das schaffende Denken, den transformie-
renden Gestaltungswillen veranschaulichen zu
lassen. Wie es Richard Hamann in seiner aus-
gezeichneten kleinen Schrift über „Kunst und
Kultur der Gegenwart" einmal dargelegt hat,
hängt diese Stiltendenz unserer Zeit innig zu-
sammen mit dem Organisatorischen unserer
gesamten Lebenshaltung, mit der allgemeinen
Betonung des Moments der Produktivität, mit
der Bewußtheit und Programmatik der Gegen-
wart überhaupt. Diese Tendenz, wie sie bereits
in ihrem Aufkeimen während einer Zeit impres-
siven Sichhingebens an die natürliche Erschei-
nung deutlich wurde, ist dann immer deutlicher
herausgetreten: in entschiedener Weise bei Ce-
zanne, radikal über den Kubismus hin schließ-
lich bei den sogenannten „suprematistischen"
Russen Tatlin, Malewitsch usw. sich geltend
machend und bei allen jenen Zeitgenossen, die
sich geradewegs „Konstruktivisten" nennen.
Sie ist die verbindende Gemeinsamkeit fast aller
ausgesprochen heutigen Kunsterscheinungen.

Im Bereiche dieser neuen, sich mehr oder
weniger auswirkenden Gesinnung formuliert
sich heute das Problem des Stillebens ent-
sprechend neu und anders. Nicht mehr er-
gibt es die vornehmlichste Gelegenheit zu
liebevoller Sichversenkung des künstlerischen
Sehens in das stille Eigenleben der gegebenen
und umgebenden Dinge. Nicht mehr ist das
Stilleben die spezielle Gattung einer Objek-
tivität, die in malerischer Breite und Treue
das organische Gewächs in der ihm eigentüm-
lichen Lufthülle zu erfassen sich bescheidet.
Vielmehr wird das Stilleben jetzt dem Künstler
zur besonderen Möglichkeit, recht autonom
und aus sich heraus zu gestalten, — bewußt,
kompositorisch, konstruktiv. Das Stilleben,

ehedem Thema besonderer Eignung zu ein-
fühlendem, stofflich gebundenem, dem Natür-
lichen nachgehendem Schaffen, ist nun das Ge-
biet, auf dem sich die formende Selbständig-
keit des Künstlers so recht unbedingt auszu-
wirken vermag. Zwar ist er auch in der Land-
schaftsdarstellung, im Bildnis der Umgestalter
eines natürlich Gegebenen, aber in aller Frei-
heit des Akzentuierens und Abstrahierens hier
doch immer einigermaßen abhängig von einer
vorgefundenen Ausgangsgegebenheit, die seiner
Selbständigkeit von vorn herein gewisse Schran-
ken setzt. Das Stilleben jedoch wird als Objekt
erst vom Künstler zusammengestellt und an-
geordnet, d. h. im Falle des Stillebens will
auch die Ausgangsgegebenheit des
eigentlichen Gestaltungsprozesses bereits ge-
schaffen sein. Es kommt daher dem Künstler
der Gegenwait und seinen konstruktiven Nei-
gungen ganz offensichtlich entgegen.

Die Anordnung von Einzeldingen zum Still-
leben gruppierte der Maler des vorigen Zeitab-
schnitts mit lockerer Hand, mied unglaubhafte
Sachverbindungen und verbarg tunlichst den
Aufbau der Gegen stände zum rhythmisch durch-
gegliederten Gefüge. Seit etwa Cezanne ist
ein Eingeständnis sowohl derStruktur des Ein-
zelgegenstands wie der funktionalen Zusammen-
hänge und Beziehungen offensichtlich, — ein
Eingeständnis zunächst, dann ein absichtsvolles
Hervorkehrenundausdruckbestimmendes Über-
wiegen dieser Momente. Schließlich kommt man
zu jener Verabsolutierung der ordnenden Prin-
zipien, zu jener Diktatur des kompositorischen
Gedankens im kubistischen Stilleben, das die
einzelne Gegenständlichkeit fast völlig im kon-
struktiven System aufgehen, das real Sachliche
fast ganz vom Spiel der Gliederung und Fügung
aufschlucken läßt. Das Verhältnis von Gegen-
stand und Konslruktion erscheint jetzt genau
umgekehrt wie etwabei Schuch oder Chardin:
das natürliche Gesicht der Dinge ist nun das,
was verborgen wird, — Bildlogik und Gruppen-
struktur dagegen wuchern unter Verdrängung
alles Ungefähren, Zufallsähnlichen und Illusions-
haften: bis zur Tilgung schließlich des eigent-
lichen Stillebencharakters in einer freien
Phantasie der Konstruktion.

Diese Entwicklung scheint zunächst in Wider-
spruch zu stehen mit dem dringenden Streben
nach Sachlichkeit, das wir allenthalben als
den heftigsten Antrieb unserer Zeit zu erkennen
 
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