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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 54.1924

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Sacharow, Alexander: Gedanken über den Tanz
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https://doi.org/10.11588/diglit.8536#0223

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CLOTII.DE SACHAROW.

»TANZrSTUJJlE«

GEDANKEN ÜBER DEN TANZ.

VON ALEXANDER SACHAROW.

Der Tänzer von heute hat seine Persönlich-
keit verloren. Er hat nicht nur sein Ich,
diese Vorbedingung des Künstlers verloren,
er ist auch schöpferisch unfruchtbar geworden.

Herunter gedrückt zu der Rolle, gelehrig und
fast mechanisch die Pseudotradition der klas-
sischen Schule (man weiß nicht, wieso und wa-
rum als Norm aufgestellt) zu verkörpern, befin-
det er sich in einem circulus viciosus.

Wir wollen ihm seine Individualität wieder-
geben, indem wir ihn von den Schranken der
Konvention befreien, die ihn ersticken.

Wir wollen, daß er auf der Ebene seines
künstlerischen Schaffens genau so frei sei, wie
jeder andere Priester reiner Kunst. Wie der
Maler die Schwingungen seiner Seele in Far-
ben verwirklichen kann, so muß der Tänzer
sie in seiner Kunst ausdrücken können.

Man sagt ihm, er müsse die reine Choreo-
graphie schützen und unverkümmert erhallen,
und dies wird Vorwand, ihn zu einem mecha-
nischen Mannequin zu machen. Wir aber, die
wir uns darauf berufen, zu den glühendsten
Jüngern des klassischen Balletts zu gehören,

XXVII. Juli 1924. 5*

wir bewahren von dieser Choreographie nur
die heiligste Tradition und nicht die Manieriert-
heiten, die sich im Lauf der Jahre gebildet haben.

Wir haben schon vor langer Zeit die ersten
Versuche gemacht, unseren Standpunkt zu ver-
teidigen. Wir stützen uns nicht auf theoretisie-
rende Überlegungen, die als Träume von Idea-
listen angesehen werden dürfen, sondern auf
Resultate, Früchte unserer Arbeit.

Wir sagen, daß der Tänzer das Leben seiner
Seele in der Sprache der Bewegungen aus-
drücken soll, und wir verweisen auf zwei unserer
Tänze, die „Zirkus-Launen" und das „Neger-
lied", um damit unsere Behauptung zu stützen.

Meine Leidenschaft für den Zirkus, die Ton-
leiter von Sensationen und Eindrücken, die ich,
seit ich ihn kenne, in mir erlebt habe, jene be-
sondere Atmosphäre, welche mich berauscht,
diese ganze Welt, die mich aufwühlt, fiebern
macht, seitdem ich sie verstehe. All dies ist in
der „Laune des Zirkus" verkörpert.

Ebenso ist für das Negerlied, das Wesent-
liche des Eindrucks „Amerika" in der Sprache
der Tänzerin, der Bewegung, ausgedrückt.
 
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