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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 54.1924

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Barchan, Pawel: Chana Orlowa
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Hildebrandt, Hans: Einige Worte zur "Sendung der Kunst"
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https://doi.org/10.11588/diglit.8536#0305

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Chana Orlowa.

tierende, die Erdhafte, die Sinnliche. Ihre Müt-
terlichkeit entwickelt sich mit ihr zusammen,
erneuert sich, ergänzt sich, gehorcht stets dem
Gesetz der Nützlichkeit, der Erhaltung.

Die Frauen, die den bildenden Künsten sich
widmen, entstammen fast durchweg der ersten
Kategorie. Ihnen gilt vielfach statt des Schaf-
fens — eine Spielerei; statt der Empfindung
— eine Empfindelei; stets Nachahmung, stets
schrill; et was Gespreiztes, Verziertes, Spitzes,
Flatterndes, ein Naschen an den Errungen-
schaften der Ernsten.

Nichts von alledem bei Chana Orlowa.

Ist ihr Werk auch als Willensausdruck, als
Tat von männlichem Charakter, was ja auch
nur hohe künstlerische Potenz bedeutet, so sind
ihre Gestalten, was die Äußerung der Empfin-
dung betrifft, von einem mütterlichen Gedanken

gezeugt, von einer mütterlichen Hand geschaffen.
Der überlegene, gütige, verständnisinnige Humor
auf der einen Seite, die Liebe für die Rundheit
(wie sehr diese auch Ausdruck eines absolut
plastischen Empfindens auch ist), eine Rund-
heit, die schon an die Tolstoische erinnert, auf
der andern Seite, dies alles ein Ausdruck ihrer
allumfassenden, allschützenden Mütterlichkeit.

Betrachtet man vollends ihre Zeichnungen,
darin sie ihrem Humor bis zur spitzen Karikatur
freien Lauf läßt, eine Galerie zeitgenössischer
Köpfe, so ist man versucht zu glauben, eine
Mutter hätte voller Liebe und Laune die Schar
ihrer über die Welt verstreuten Söhne abkon-
terfeit. Nicht daß sie auch nur irgendwie ein-
ander ähnlich wären, nein, nur weil sie mit
kluger, neckender aber so ganz und gar mütter-
licher Schalkheit abkonterfeit sind. p. barcban.

EINIGE WORTE ZUR „SENDUNG DER KUNST".

Die allzu oft gehörte Gleichung „Kunst ist
Luxus" gehört zu den vielen banalen
Scheinwahrheiten. Denn sie mengt innerer Un-
wahrheit ein wenig äußere, augenfällige Wahr-
heit bei. Gewiß dient jedes einzelne Kunst-
werk einem Luxusbedürfnis, wenn man darunter
ein Bedürfnis versteht, das nicht unentrinnbarer
materieller Lebensnotdurft entwächst. Aber der
Trieb zur Kunst steigt aussolchenTiefen unseres
Seins empor, daß das Wort Luxus zur Lästerung
wird. Die Kunst als solche hat mit Religion und
Philosophie kein aus dem Gegenstand ihrer Be-
schäftigung abzuleitendes Merkmal gemein, weil
es überhaupt keinen Gegenstand gibt, der dem
Wesen der Kunst ureigentümlich wäre. Allein
ihrer geistigen Sendung nach stehen die drei
einander umso näher. Ist Religion der gefühls-
mäßige Versuch, Ich und Welt im weitesten
Sinn als harmonische Einheit zu fassen — be-
deutet Philosophie das gleiche, aber von dem
erkennenden, kritischen Verstand und von der
aufbauenden Vernunft unternommene Wagnis
— und mühen sich beide an einem unendlichen,
unseren Sinnen, unserer Erfahrung und unserer
Erkenntnis für immer unzugänglichen Gegen-
stande ab: So zeigt die Kunst an einem end-
lichen, aber „wirklichen" Beispiel die Möglich-
keit harmonischer Vereinigung und stellt eine
vollkommene Welt im Kleinen als beglücken-
des Symbol ewig-unermeßlicher Welteinheit
sinnlich begreifbar vor uns auf.

Die Daseinsform des Kunstwerks bildet den
äußersten Gegensatz zur Daseinsform des Men-
schen. Als bewußtes Ich sind wir herausgelöst

aus dem Zusammenhang der Welt, den wir mit
dem Gefühle ahnen, doch nicht zu erkennen
vermögen. In jedem Augenblick sind wir an
einen bestimmten Raum gefesselt, während die
Vorstellung, allerorten sein zu können, unab-
lässig in uns lebt. Solange wir atmen, gibt es
für uns keine Vollendung, und jeder flüchtigen
Stunde der Erfüllung reihen sich mit Notwen-
digkeit lange Zeiten der Nichterfüllung an. Wir
sind abhängig von den Vorgängen im eigenen
Körper, die sich ohne unser Wissen, unerreich-
bar unserem Willen abspielen; abhängig von
den Geschehnissen der Natur; abhängig von
denen, die vor uns gelebt haben wie von jenen,
die mit uns leben, und unsere Gedanken und
Handlungen empfangen Einflüsse von jedem
fremden Willen, der unsere Bahn kreuzt. Und
dennoch träumt die Sehnsucht immerzu von
einer harmonischen Einheit unserer geistig-leib-
lichen Existenz, von einer Aufhebung und Ver-
söhnung aller Gegensätze.

Da kommt der Künstler und zeigt eine solche
Einheit. Freilich, mißt man seine Werke an der
Welt der Natur, so offenbart er die Einheit an
Beispielen so verschwindend gering — wie wir
uns selbst einschätzen müssen, sobald wir zum
nächtlichen Sternenhimmel aufblicken. Zu unse-
rem Glück jedoch sieht auch das seelische Auge
gleich dem körperlichen alle nahen Dinge groß,
alle fernen klein. Und so wächst das Gebilde
des Künstlers zum bedeutsamen und mächtigen
Gleichnis empor. Denn in ihm ist Einheit.
Weise Beschränkung, die im Leben außerhalb
unserer Fähigkeiten liegt, hat sie möglich ge-
 
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