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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 54.1924

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Michel, Wilhelm: Wiederkehr des Ideals, [1]: auf dem Wege zu einer neuen Ästhetik?
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https://doi.org/10.11588/diglit.8536#0377

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Wie hat sich diese relativistische Richtung
in der Kunst und in den Kunstanschauungen
geäußert? Man kann es knapp so ausdrücken,
daß sie den „Wert" des Schönen fast völlig
verdrängt und durch den „Wert" des künstle-
risch „Lebendigen" ersetzt hat. Noch unsre
klassische Zeit kannte das Ideal des Schönen.
Die schroffste Formulierung hat ihm der große
Johann Joachim Winkelmann gegeben. Er und
mit ihm seine Zeit besaßen durchaus das, was
wir einen objektiven Wertbegriff vom Schönen
zu nennen berechtigt sind. Er fand ihn ver-
wirklicht in den Werken der Griechen, und er
wurde nicht müde, deren Schönheit zu preisen;
nicht etwa als eine Schönheit neben andern,
sondern als die Schönheit über allen andern
Versuchen, Schönes zu bilden. So konnteer
sagen: „Die reinsten Quellen der Kunst sind
geöffnet: glücklich ist, wer sie findet und
schmeckt. Diese Quellen suchen, heißt nach
Athen reisen; und Dresden (das damals gerade
durch die Bemühungen des Königs, des „deut-
schen Titus", eine reihe wertvoller antiker
Originale erhalten hatte) wird nunmehr Athen
für Künstler. Der einzige Weg für uns, groß,
ja wenn es möglich ist, unnachahmlich zu wer-
den, ist die Nachahmung der Alten." Plastisch,

greifbar, objektiv erhebt sich aus solchenWorten
ein ästhetischer Höchstwert, geprägt mit einer
Unnachsichtlichkeit, die bei unserm psycho-
logisch erreichten und relativierten Geschlecht
starken Widerspruch erregen mußte. Winkel-
mann hat dieses Ideal mit sehr bestimmten
Zügen umschrieben und objektiviert. „Das all-
gemeine vorzügliche Kennzeichen der griechi-
schen Meisterstücke ist eine edle Einfalt und
eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im
Ausdruck. So wie die Tiefe des Meeres alle-
zeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so
wüten, ebenso zeigt der Ausdruck in den
Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften
eine große und gesetzte Seele."

Unschwer erkennt auch der Laie, daß wir
hier in einem ganz andern Bereich weilen als
in dem der modernen Kunsterörterung. Diese
kann und darf nach ihrem heutigen Stande nicht
wagen, eine bestimmte seelische Haltung im
Kunstwerk wie im Künstler als eine vor andern
Haltungen objektiv vorzüglichere hinzustellen.
Winkelmann aber sagt an andrer Stelle aus-
drücklich: „Je ruhiger der Stand des Körpers
ist, desto geschickter ist er, den wahren Charak-
ter der Seele zu schildern; in allen Stellungen,
die von dem Stande der Ruhe zu sehr abweichen,
 
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