Wiederkehr des Ideals.
E. WENZ-V1ETOR, R. R1EMERSCHM11), V. WERSIN, A. NIEMEYER. »LACKARBEITIEN
in allen menschlichen Handlungen voran; das
Gesetzte, das Gründliche folgt zuletzt. Dieses
letztere aber gebraucht Zeit, es zu bewundern;
es ist nur großen Meistern eigen.
So erscheint Winckelmann als der Verfechter
eines ästhetischen Wertbegriffs, der durchaus
objektiv, gesetzgebend und kanonisch ist. Vor
ihm, neben ihm und nach ihm haben hunderte
großer Menschen ähnliche oder gleiche Ideale
vertreten, Ideale, die absolutistisch, nicht rela-
tivistisch waren. Greifen wir, statt vieler be-
kannten Zeugnisse, ein wenig bekanntes heraus,
das aus der indischen Kunstlehre stammt und
besonders an die zuletzt angeführten Gedanken
Winckelmanns anklingt. Die indische Ästhetik
fordert, daß das Kunstwerk sichtbar von einer
der neun „dauernden" Seelenhaltungen be-
herrscht sei, nicht von einer der 33 „vergäng-
lichen". Sie spricht aus, daß, wenn in einem
Kunstwerk eine vergängliche Erregung zum
Hauptmotiv wird, dies die „Schönheit" zerstört.
Sie spricht ferner aus, daß das bloß „Hübsche",
das Unterstreichen flüchtiger Empfindungen,
das Hineintragen persönlicher Gefühle ins
Kunstwerk der Schönheit und Wahrheit zu-
wider ist, indem dadurch das Werk, wie wir
sagen würden, „sentimentalisch" wird.
Werfen wir nun des Gegensatzes halber
einen Blick auf die Entwicklung, die das alte
Ideal des „Schönen", der ästhetische Höchst-
wert, unter der Einwirkung relativistischer
Strebungen genommen hat. Da können wir
fast mit dem Finger verfolgen, wie der Sprach-
gebrauch aus dem Begriff des „Schönen" fort-
schreitend die objektiv nennbaren Bestandteile
ausgestoßen hat. Der Begriff wurde immer
mehr ins Subjektive gewendet. Ganz allmäh-
lich schob sich an die Stelle des „Schönen"
der Begriff des ästhetisch Wirksamen oder, noch
weitergehend, der Begriff des „ästhetischen Er-
lebnisses". Goethe noch suchte auf die Frage;
„Was ist schön" eine objektive Antwort zu
geben; wir aber antworten darauf geradezu:
Schön ist, was das ästhetische Erlebnis her-
vorruft, „Schönheit" ist eine seelische Wirkung,
ein seelischer Zustand. Goethe kommt aus
seiner objektivistischen Einstellung heraus zu
dem Satze; „Was ist wichtiger als die Gegen-
stände, und was ist die ganze Kunstlehre ohne
sie? Alles Talent ist verschwendet, wenn der
Gegenstand nichts taugt! *)" Millet aber sagt:
*) Natürlich kann Goethe auf diesen einen herausge-
griffenen Satz, mit dem manche seiner andern Aussprüche
deutlich kontrastieren, nicht festgelegt werden.
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E. WENZ-V1ETOR, R. R1EMERSCHM11), V. WERSIN, A. NIEMEYER. »LACKARBEITIEN
in allen menschlichen Handlungen voran; das
Gesetzte, das Gründliche folgt zuletzt. Dieses
letztere aber gebraucht Zeit, es zu bewundern;
es ist nur großen Meistern eigen.
So erscheint Winckelmann als der Verfechter
eines ästhetischen Wertbegriffs, der durchaus
objektiv, gesetzgebend und kanonisch ist. Vor
ihm, neben ihm und nach ihm haben hunderte
großer Menschen ähnliche oder gleiche Ideale
vertreten, Ideale, die absolutistisch, nicht rela-
tivistisch waren. Greifen wir, statt vieler be-
kannten Zeugnisse, ein wenig bekanntes heraus,
das aus der indischen Kunstlehre stammt und
besonders an die zuletzt angeführten Gedanken
Winckelmanns anklingt. Die indische Ästhetik
fordert, daß das Kunstwerk sichtbar von einer
der neun „dauernden" Seelenhaltungen be-
herrscht sei, nicht von einer der 33 „vergäng-
lichen". Sie spricht aus, daß, wenn in einem
Kunstwerk eine vergängliche Erregung zum
Hauptmotiv wird, dies die „Schönheit" zerstört.
Sie spricht ferner aus, daß das bloß „Hübsche",
das Unterstreichen flüchtiger Empfindungen,
das Hineintragen persönlicher Gefühle ins
Kunstwerk der Schönheit und Wahrheit zu-
wider ist, indem dadurch das Werk, wie wir
sagen würden, „sentimentalisch" wird.
Werfen wir nun des Gegensatzes halber
einen Blick auf die Entwicklung, die das alte
Ideal des „Schönen", der ästhetische Höchst-
wert, unter der Einwirkung relativistischer
Strebungen genommen hat. Da können wir
fast mit dem Finger verfolgen, wie der Sprach-
gebrauch aus dem Begriff des „Schönen" fort-
schreitend die objektiv nennbaren Bestandteile
ausgestoßen hat. Der Begriff wurde immer
mehr ins Subjektive gewendet. Ganz allmäh-
lich schob sich an die Stelle des „Schönen"
der Begriff des ästhetisch Wirksamen oder, noch
weitergehend, der Begriff des „ästhetischen Er-
lebnisses". Goethe noch suchte auf die Frage;
„Was ist schön" eine objektive Antwort zu
geben; wir aber antworten darauf geradezu:
Schön ist, was das ästhetische Erlebnis her-
vorruft, „Schönheit" ist eine seelische Wirkung,
ein seelischer Zustand. Goethe kommt aus
seiner objektivistischen Einstellung heraus zu
dem Satze; „Was ist wichtiger als die Gegen-
stände, und was ist die ganze Kunstlehre ohne
sie? Alles Talent ist verschwendet, wenn der
Gegenstand nichts taugt! *)" Millet aber sagt:
*) Natürlich kann Goethe auf diesen einen herausge-
griffenen Satz, mit dem manche seiner andern Aussprüche
deutlich kontrastieren, nicht festgelegt werden.
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