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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 54.1924

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Michel, Wilhelm: Wiederkehr des Ideals, [1]: auf dem Wege zu einer neuen Ästhetik?
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https://doi.org/10.11588/diglit.8536#0382

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Wiederkehr des Ideals.

Herrschaft errungen hat, erfährt die Menschheit
wieder, daß sie sich bei der relativistischen
Einsicht keineswegs beruhigen kann.

Das Streben nach dem Endwert ist unserem
Geist eingegeben. Es liegt seinem ganzen
Wesen und Tun, bestehe dieses nun in tech-
nischem, geistigem oder künstlerischem Schaf-
fen, unverbrüchlich zugrunde. Ein Weltbild,
das diesem Streben nach dem absoluten Wert,
nach dem „Ideal" keinen Raum, keine Ent-
sprechung gibt, verstößt wider das erste geistige
Erfordernis. Wir sind also längst dahin gelangt,
unter der relativistischen Zersetzung unseres
Geisteslebens zu leiden. Die Qual steigt von
Jahr zu Jahr, die Spannung zwischen jenem
Hunger nach dem Spitzenwert und seiner Ver-
weigerung durch die relativistische Erkennt-
nislage wird immer unerträglicher. Der Re-
lativismus hat uns zwar mit allem Konkreten,
Einmaligen, Seienden auf guten Fuß gesetzt.
Aber er hat uns dafür entzweit mit den drin-
gendsten Erfordernissen unsrer geistigen Natur.
Er hat die Werte, indem er sie entthront und
abhängig gemacht hat, überhaupt in Frage ge-
stellt und sogar vernichtet. Er bedroht in der
AuswucheruDg, zu der er heute gediehen ist,
die gesamte geistige und künstlerische Welt

mit der Anarchie. Was Hermann Hefele in
seinem Werk „Das Wesen der Dichtung" über
den heutigen Zustand der Literaturbetrachtung
sagt, gilt auch für die bildende Kunst.

„Die idealistische Ästhetik wurde abgelöst
durch einen nicht weniger saftlosen Historismus,
die Theorie des romantischen Weltgefühls durch
einen vollendeten Dilettantismus der subjek-
tiven Wertung; und beide sind einer prinzi-
piellen Fragestellung von vornherein in gleicher
Weise im Wege . . Man registrierte und rubri-
zierte, spürte dem Stammbaum des jenseitigen
Einflusses nach und richtete den Stoff nach
Gesichtspunkten des Inhalts und der äußeren
technischen Form. In der Wertung aber galt
uneingeschränkt das Gesetz des persönlichen
Geschmacks und Geschmäcklertums. Es gefiel,
was der eigenen Art und Unart entsprach und
sie zu bejahen geeignet schien. Man prüfte
nicht, noch verstand man, sondern man ergriff
Partei und sprach von rechts und links, von Fort-
schritt und Rückschritt, als ließe sich das Gei-
stige auf soziologische Parallelen festlegen und
als gäbe es in der Wertung des Kunstwerks . . .
andere Gesetze als die des Lebendigen und des
Toten, des Gesunden und des Kranken, des
Vollendeten und des Minderwertigen". (Ss.f37^)SS

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