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DIE SAITENLOSE ZITHER
VON WILHELM MICHEL
Tau Yüan-Ming, ein chinesischer Dichter aus
alter Zeit, hatte eine Zither, auf der keine
Saiten waren. Er fuhr mit der Hand darüber
und sagte: ,,Die saitenlose Zither erst kann die
letzten Regungen des Herzens ausdrücken."
Eine sonderbare Legende. Aber erst wenn
man darauf gekommen ist, daß hinter ihrer vor-
dergründigen Paradoxie doch ein Sinn stecken
könnte, hat man ein Wesensgeheimnis aller
Kunst begriffen.
Kunst spricht; sie erzählt und schildert. Aber
sie gebraucht Wort und Sprache in andrer Mei-
nung, von anderem geistigem Ausgangspunkt
aus und auf andere Ziele hin als die Wissen-
schaft oder die Politik oder der tägliche Sprach-
verkehr unter Menschen. Das bedeutet, daß die
künstlerische Handhabung des Wortes gleich-
sam jenseits der Begrifflichkeit liegt. Die saiten-
lose Zither der chinesischen Legende ist das
Bild für ein Sprechen oberhalb der Begriffs-
Zone. Sie ist das Bild für eine Art von „Mit-
teilung", die keinen begrifflichen Steckbrief von
dem Mitzuteilenden gibt, sondern das Mitzu-
teilende als „Schwingung" in die Welt setzt, in
DIE SAITENLOSE ZITHER
VON WILHELM MICHEL
Tau Yüan-Ming, ein chinesischer Dichter aus
alter Zeit, hatte eine Zither, auf der keine
Saiten waren. Er fuhr mit der Hand darüber
und sagte: ,,Die saitenlose Zither erst kann die
letzten Regungen des Herzens ausdrücken."
Eine sonderbare Legende. Aber erst wenn
man darauf gekommen ist, daß hinter ihrer vor-
dergründigen Paradoxie doch ein Sinn stecken
könnte, hat man ein Wesensgeheimnis aller
Kunst begriffen.
Kunst spricht; sie erzählt und schildert. Aber
sie gebraucht Wort und Sprache in andrer Mei-
nung, von anderem geistigem Ausgangspunkt
aus und auf andere Ziele hin als die Wissen-
schaft oder die Politik oder der tägliche Sprach-
verkehr unter Menschen. Das bedeutet, daß die
künstlerische Handhabung des Wortes gleich-
sam jenseits der Begrifflichkeit liegt. Die saiten-
lose Zither der chinesischen Legende ist das
Bild für ein Sprechen oberhalb der Begriffs-
Zone. Sie ist das Bild für eine Art von „Mit-
teilung", die keinen begrifflichen Steckbrief von
dem Mitzuteilenden gibt, sondern das Mitzu-
teilende als „Schwingung" in die Welt setzt, in