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Lufen, Peter Ferdinand [Bearb.]
Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland: Baudenkmale in Niedersachsen (Band 5,3): Landkreis Göttingen, Teil 2: Altkreis Duderstadt mit den Gemeinden Friedland und Gleichen und den Samtgemeinden Gieboldehausen und Radolfshausen — Hameln: Verlag CW Niemeyer, 1997

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https://doi.org/10.11588/diglit.44173#0145
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die den Wollwebern vorschrieb, daß sie ihr Tuch
erst verkaufen dürfen, wenn es „uppe deme
rathuse twischen den sulen“ geprüft und besie-
gelt worden ist, ist der Begriff des „Kaufhau-
ses“, der 1432 zum letzten Mal in den Schrift-
quellen erscheint, wohl auf das gesamte Ge-
bäude zu beziehen.
Im Gegensatz zur niedrigen Erdgeschoßhalle
besaß der ungeteilte Raum, der das gesamte
Obergeschoß einnahm, mit 5,65 Metern eine
beträchtliche Höhe. Das Obergeschoß diente
wohl in erster Linie den festlichen Veranstaltun-
gen der Bürgerschaft, worauf auch die Statuten
der Stadt Bezug nehmen. In der zur Markt-
straße ausgerichteten Nordwand des Oberge-
schosses konnten drei Saalfenster nachgewie-
sen werden, die eingebunden waren in eine klar
ausgebildete Mittelachsensymmetrie, betont
auch durch das etwas höher gesetzte mittlere
Fenster. Die rekonstruierte Nordseite des goti-
schen Kernbaus läßt eine strenge symmetri-
sche Anordnung der Tür- und Fensteröffnungen
und wohl auch eine Differenzierung der Fenster-
größen nach der Bedeutung der Geschosse er-
kennen: kleine Fenster für die Kaufhalle im Erd-
geschoß, große Saalfenster im Obergeschoß.
Leider lassen sich die rechteckig gerahmten
Spitzbogenfenster des Obergeschoßsaals, die
bis auf ein nachträglich eingefügtes Fenster
zum ursprünglichen Baubestand zu gehören
scheinen, aus stilkritischen Überlegungen kaum
in eine Entstehungszeit um 1300 datieren. Ihr
Blendmaßwerk in den Zwickeln der oberen
Ecken, das aus unterschiedlichen, schon fisch-
blasig verzogenen Dreipaßformen besteht, wei-
sen eher auf das 14.Jh. hin.
Da es-für eine innere Treppenverbindung zwi-
schen Kaufhalle und Saal keine baulichen Hin-
weise gibt, erfolgte der eigentliche Saalzugang
offensichtlich über zwei Spitzbogenportale in
der nördlichen Längswand. Ob die beiden Por-
tale des Obergeschosses durch jeweils eine
Treppe oder durch eine verbindende hölzerne
Galerie erschlossen wurden, konnte wegen des
Laubenvorbaues des 16.Jh. nicht geklärt wer-
den. In auffälligem Gegensatz zu der regelmäßi-
gen Ausbildung der Nordwand, die offensicht-
lich den Charakter einer Hauptfassade hatte,
wurde die Kaufhaussüdwand ausgeführt.
Unter der erweiterten Dachkonstruktion des 16.
und 17.Jh. hat sich über dem westlichen Saal-
teil das wohl ursprüngliche Dachwerk des
Kernbaus erhalten. Unterteilt ist das Sparren-
dach in zwei Kehlbalkenebenen, in deren unter-
sten Lage sich in jedem Kehlbalken Zapfen-
löcher befinden, die auf ehemalige Hängehölzer
der Deckenbalken schließen lassen.
Wie an der noch vorhandenen Mauersubstanz
abzulesen ist, schloß die wohl fensterlose
Westwand mit einem Treppengiebel ab, dessen
Umrißlinie sich an der später erhöhten Giebel-
mauer abzeichnet und darüber hinaus durch ei-
ne Bestandszeichnung aus dem Jahre 1806
gesichert ist. Offenbar war auch der Ostgiebel
entsprechend ausgebildet.
Eine nachträgliche Veränderung der Erdge-
schoßhalle erfolgte wohl im 14.Jh. durch die
Einfügung eines Raumes in der äußersten Süd-
westecke. Die nur wenig in den Fußboden ein-

getiefte 6,55 Meter mal 4,70 Meter messende
Steinkammer ist mit einem Kreuzrippengewölbe
überspannt, dessen Gewölbeschlußstein ein
fratzenartiges Gesicht darstellt, das man als
„Neidkopf“ deuten kann. Urkundlich nicht gesi-
chert ist indes die ursprüngliche Funktion der
heute als „Folterkeller“ bezeichneten steinernen
Kammer, die erst Mitte des 16.Jh. als Gefäng-
nis genutzt wurde.
Eine nachträgliche Erweiterung stellt der kleine
zweigeschossige, mit einem tonnengewölbten
Keller versehene Annex dar, der etwa in der
Mitte der südlichen Längswand des Kernbaus
anschließt. Sein kreuzrippengewölbtes Erdge-
schoß, erstmals 1531 in den Urkunden als
„Salzkammer“ erwähnt, wurde durch ein zur
Tür erweitertes Fenster an die Kaufhalle ange-
bunden, während sein Obergeschoß über eine
in die Westwand einschneidende Wendeltreppe
zugänglich war. Als Besonderheit zeigt der
Gewölbeschlußstein des Erdgeschosses das
Wappen des Mainzer Erzstiftes, das „Mainzer
Rad“.
Der Anbau zwischen 1432-1436
Wenige Jahre nach dem verheerenden Stadt-
brand von 1424, dem große Teile der Stadt
zum Opfer fielen, der aber das alte Kaufhaus
verschonte, wurde mit dem Anbau an der Süd-
seite des Kernbaues begonnen, der für die
Ratsstube, das Ratsarchiv und den Ratswein-
keller bestimmt war. Den Beginn der Baumaß-
nahme teilt ein Inschriftenstein über der Tür
zum Ratsweinkeller mit: „Im Jahre des Herrn
1432 am Tage nach dem Fest des heiligen Bi-
schofs Servatius ist dieses Werk begonnen
worden.“ Nach vierjähriger Bauzeit konnte der
Rat am 24. Juni 1436 das neue Gebäude be-
ziehen. Es entstand ein schlichter Quaderbau
auf rechteckigem Grundriß mit drei unterschied-
lich hohen Geschossen, die keinen Bezug auf
die Geschoßeinteilung des alten „Kaufhauses“
nehmen. Die beiden unteren Geschosse sind
mit je vier Kreuzrippengewölben überspannt,
die sich im Untergeschoß in Raummitte auf
kräftige Gurtbögen und einen achteckigen Mit-
telpfeiler stützen. Von den insgesamt acht Ge-
wölbeschlußsteinen sind nur zwei verziert: der
eine zeigt das „Mainzer Rad“, der andere eine
Szene des Alten Testaments (4. Moses 13,24)
mit Josua und Kaleb, die als Kundschafter aus
dem Gelobten Land eine Weintraube tragen -
eine Darstellung, die auf die Funktion des Kel-
lergeschosses als Weinkeller hinweist.
Das darüber gelegene, ebenfalls kreuzrippen-
gewölbte Geschoß ist durch massive Trenn-
wände unterteilt. Der Hauptzugang des Anbaus
erfolgte über das Portal am Gropenmarkt,
während die Obergeschosse durch eine in die
Mauermasse eingebundene Wendeltreppe, die
sich an der östlichen Außenwand abzeichnete,
erreicht werden konnten.
Die Rathauserweiterung des frühen 16.Jh.:
Fachwerkaufstockung und Ladenneubau
Eine das heutige Erscheinungsbild des Rathau-
ses wesentlich bestimmende Baumaßnahme
erfolgte durch die Erweiterung des frühen
16.Jh. mit der Fachwerkaufstockung und dem

Laubenneubau. Offenbar um die Bedeutung
des Rathauses, das sich bis zu Beginn des
16.Jh. klar dem größeren „Kaufhaus“ unterord-
nete, auch architektonisch zur Geltung zu brin-
gen und um die beiden unterschiedlich weit
nach Süden vorgebauten Annexe mit einem
Fachwerküberbau zu einem Baukörper zusam-
menzufassen, wurde in der äußersten Ecke des
bislang nicht überbauten südwestlichen Win-
kels, in der Außenwandflucht von Salzkammer-
und Rathausanbau, ein kräftiger, zweieinhalb
Geschoß hoher Pfeiler aufgemauert, der als
Auflager der Fachwerkkonstruktion diente. An
seiner Südseite deutet die Inschrift „Anno dni
1528“ offenbar auf den Beginn der Baumaß-
nahme hin. Der vereinheitlichende Fach-
werkaufbau, mit einem großen, nach Süden
ausgerichteten Giebel und einem nach Osten
weisenden Zwerchhaus, hat sich nahezu unver-
ändert erhalten. Einhergehend mit der Auf-
stockung war offenbar von Anfang an auch die
Einfügung eines die Ebene der Ratsstube auf-
nehmenden Geschosses unterhalb des Fach-
werkaufbaues vorgesehen. Nicht gesichert ist,
ob es sich bei diesem Geschoß um die „nige
dorntze“ handelt, die in den Quellen von 1530
und 1531 genannt wird.
Noch ehe der Innenausbau des neuen Fach-
werkgeschosses abgeschlossen war, began-
nen 1530 die Vorbereitungen für den Um- und
Erweiterungsbau des zur Nordseite ausgerich-
teten Laubenvorbaues. Nachdem ab Frühjahr
1530 unter Meister Hans Weske Holz gehauen
und bearbeitet wurde, wird mit dem Steinmetz-
meister Hencze Vorwiß aus Northeim ein Werk-
vertrag über den Bau einer Laube und eines
Pfeilers im Marstall abgeschlossen. Er soll „je
zwei ungefähr 20 Fuß lange Mauern von glei-
cher Höhe wie die alte Mauer vorn am Rathaus
machen, davon die eine mit zwei Fenstern, die
andere mit einer geschlossenen Tür, zwischen
beiden Mauern vorn am Markt soll er, wie es
sich am besten fügt, zwei oder drei Pfeiler stel-
len und mit Bögen runden und wölben“. Die
einzelnen Schritte der baulichen Durchführung
sind in den Abrechnungen der Rechnungs-
bücher der Stadt festgehalten. Aus den Schrift-
quellen ist ebenfalls zu erschließen, daß am 10.
September 1531 ein Steinmetz aus Kassel
„umb des rades willen uff ohr schrifft“ die Bau-
stelle besichtigt hat. Anlaß sind offenbar die be-
reits aufgetretenen „Bauschäden“, die zur Ein-
stellung der Bauarbeiten führten und die dem
Steinmetzen Hencze Vorwiß angelastet werden.
Wegen des von ihm verursachten Schadens
wurde er aus seinem Vertrag entlassen und
mußte der Stadt Urfehde schwören und Scha-
denersatz versprechen. Etwa im März 1532
wird mit dem Steinmetzen Valentin Colst aus
Nordhausen ein Vertrag abgeschlossen, um
das Mauerwerk am Vorhause des Rathauses
sowie Pfeiler und Fenster abzunehmen und auf
die beste und „bequemste“ Weise wiederherzu-
stellen. Ob wesentliche Teile der von Hencze
Vorwiß errichteten Vorbauten stehen blieben,
oder ob ein Vorlaubenneubau nach neuem Pla-
nungskonzept errichtet wurde, läßt sich den
Quellen nicht entnehmen. Da die massiven Teile
des Laubenvorbaues mit ihren architektoni-
schen Details keinen Bruch erkennen lassen, ist
es schwer, die baulichen Anteile der drei Stein-
metzmeister Vorwiß, Colst und Voß eindeutig
voneinander zu scheiden. Für die Ausbildung

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