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106 Der Ladenbohrer.

Auch Heinrich Velthusen sah dem heutigen Abende mit
doppelter Sehnsucht entgegen. Hatte er doch nun in der Kürze
ein Amt, das seinen Mann und auch eine Familie reichlich
ernährte. Ach! hätte er doch nur ein Mittel gewußt, einen
! Strahl seiner Hoffnungen seiner lieben Doris zuleiten zu kön-
nen! Endlich, als es dunkel geworden, machte er sich auf den
Weg auf seinen Posten. Aber er konnte noch nicht ankommen.

! Menschen gingen hin und her; hier eine Magd, die Milch holte;

! dort eine andere mit dem Spinnrocken; jetzt wieder ein Lehr-
z junge, der Oel von dem Krämer holte, und so ward der Weg
^ nicht leer. Heinrich durchstrich ungeduldig andere Straßen der
Stadt und richtete von Viertelstunde zu Viertelstunde seinen
Weg auf den Marktplatz zurück; immer Störung, immer Un-
ruhe ! Ach ! das Warten! das Warten! wer diese Qual erdacht
und erfunden hat, hat niemals geliebt. Längst hatte es schon
! neun Uhr geschlagen, und um zehn Uhr war der Alte zu Bett,
sicherlich! besonders heute an einem Sonnabend, wo im Städt-
chen alles früher schlafen geht als an den übrigen Tagen!
Endlich, endlich wird es still, er darf es wagen. Vorsichtig
^ nähert er sich dem Hause; er steht lauschend an dem Laden,
! seine Finger suchen leise den Brodpfropfen— da —

Ach! lieber Leser, wenn du ein menschliches Gesühl im
Busen trägst, wirst du hier einen Augenblick inne halten und
in ängstlicher Spannung fragen: „Gott! sollte es wirklich ge-
j schehen, daß die Häscher den arme», jungen Mann ergreifen?"
Beruhige dich, theilnehmender Leser, sie fassen ihn wicht. Denn
in demselben Augenblicke, wo diese aus ihrem Hinterhalte laut
schreiend hervorstürzen, macht sich unser Held klüglich auf die
Socken und läuft, was er laufen kann, Straß' aus, Straß'
ein. Das Unglück dabei ist nur das, daß sie eben so rasch
hinter ihm drein sind und immer laut hinter ihm her rufen:
! „Halt auf! halt auf, ein Dieb!" Hu! was tönte dieser Ruf
so schauerlich durch die stillen Straßen, in denen nur die flüch-
tigen Fußtritte und Sprünge des Verfolgten und seiner Ver-
folger widerhallten. Herr Giesecke, die Feuerzange in der Hand,
mit seinen Gesellen und Lehrburschen zum Hause hiuausstür-
zeud blindlings hinterdrein und laut einstimmcnd in den Ruf:
„Halt auf! halt auf! ein Dieb!" Eine Meute Jagdhunde kann
nicht hitziger aus der Fährte eines aufgescheuchten Wildes ciu-
herjagen, alsdiese edle Gesellschaft hinter demdesignirtenPfarrer.
Zum Glück für diesen war es stockrabenfinstcr und es blieb
seinen Verfolgern nichts übrig, als sich durch den Schall der
Fußtritte des Flüchtigen in ihrer Hetze leiten zu lassen. Es
war natürlich- daß viele der durch den Ruf: „Halt auf!" er-
schreckten Bewohner der Stadt aus den Häusern stürzten, um
zu hören, zu sehen und sodann mit zu fahnden. So rollte sich
bald ein wilder Knäuel Menschen hinter ihm her; die beiden
Häscher vvn Profession waren ihm aber immer am nächsten
auf den Fersen, besonders der Eine, ein junger gewandter
j Bursche, dem die Begierde, das reichlich versprochene Fang-
j und Häschergeld zu verdienen, im Verein mit dem löblichen
: Amtseiscr Flügel zu leihen schien. Der arme Verfolgte begann
mit Schrecken zu fühlen, daß ihm die Füße fernere Dienste zu
I versagen ansiugen. Doch die Verzweiflung lieh ihm noch ein-

mal für kurze Zeit neue Kräfte. Aber bald darauf, als er
eben in eine enge Gasse einbiegen wollte, war ihm der Hetzer
so nahe gekommen, daß es demselben gelang, den fliegenden
Zipfel von Heinrichs Rocke zu erfassen. Mit einem Verzweif-
lungssprnng zur Seite war aber der Zipfel wieder frei, und
der Verfolger selbst, in der furchtbaren Erregtheit und Leiden-
schaft das Gleichgewicht verlierend, stürzte laut dröhnend zu
Boden. Vor Schmerz und Aerger schrie er laut auf. Bald
waren seine Begleiter zur Stelle; eine augenblickliche Verwirrung
und Unentschlossenheit entstand in der erregten Gruppe. Diesen
Moment der Verwirrung benutzte unser Held, seitwärts zu
schleichen und sich dicht an die Thür eines Hauses gedrückt
mäuschenstill zu verhalten. Sein Athem stockte in der Brust;
kaum acht Schritte stand er von seinen Häschern entfernt und
konnte jeden Augenblick an dem lauten Pochen seines Herzens
und dem Keuchen in seiner Brust entdeckt werden. Aber sein
Glück wollte es anders. Sobald man sich überzeugt, daß der
Gestürzte keinen erheblichen Schaden genommen, drang der alte
Giesecke auch darauf, die Verfolgung mit noch größerem Eifer
fortzusetzen, um die versäumten Augenblicke wieder einzuholen.
Man horchte einen Augenblick, und siehe, der Zufall wollte,
daß in diesem Augenblicke flüchtige Fußtritte ziemlich am Ende
der Straße nicht gar weit vor ihnen ertönten. „Da läuft er,"
rief es sogleich von allen Seiten und rasch ging es hinterher.
Mit welchen Gefühlen der arme Heinrich seine Verfolger sich
entfernen, immer weiter entfernen hörte, mag sich der Leser selbst
ausmalen. Er stand noch immer, ohne sich zu rühren, dicht
an eine Thürbrüstung gelehnt; seine Kniee schlotterten, als ob
er vom Fieber erpackt wäre; die Kehle war ihm zugeschnürt,
daß er kaum athmen konnte. Nur noch aus weiter Ferne hörte
er den furchtbaren Ruf: „Halt auf, halt auf." Endlich hörte
man auch diesen nicht mehr. Erst jetzt konnte er die ganze
Größe der Gefahr, der er so glücklich entgangen, und alle die
nachtheiligen Folgen übersehen und überdenken, die für ihn in
seiner Stellung damit verbunden gewesen wären, wenn er als
vermeinter Dieb in den Straßen verfolgt, aufgegriffen und ins
Gesangniß geworfen worden wäre. Wenn es ihm auch bald gelun-
gen sein würde, den Verdacht eines beabsichtigten gemeinen Uhren-
diebstahls von sich abzuwenden, so konnte doch Niemand ihn
von den zermalmenden Folgen der Lächerlichkeit retten. Schon
länger als zehn Minuten, seitdem die letzten Fußtritte seiner
Verfolger verhallt waren, stand er noch immer regungslos in
dem Winkel der Thüre. Er konnte sich nicht von der Stelle
regen, er mußte sich erst sammeln; er war ja wie an allen
Gliedern gelähmt, und selbst sein Willensvermögen war auf
Augenblicke außer aller Thätigkeit. Ein Kind hätte ihn jetzt
greifen und fortführen können, so wehrlos und so willenlos
war er. Er faltete still die Hände und betete zu Gott; ach!
in seinem ganzen Leben war kein so inbrünstigesDankopfer
aus seinem Herzen aufgestiegen, als in diesem Augenblicke.
Dann trat er langsam mit zitternden Füßen seinen Heiniweg
an. Die grünzenlos eilige Flucht hatte ihn auf vielen Um-
wegen , Kreuz - und Querzügcn in die Nähe einer Vorstadt
geführt, von wo er ziemlich weit nach Hause hatte. Aber
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