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Der Assessor

was müssen Sie nur von mir denken," stotterte Rosinchen,
„ich habe mich eben so sehr erschrocken."

„Erschrocken?" fragte die alte Frau und sah ihr recht
theilnehmend forschend in das liebe, rosig glühende Antlitz.
„Was hat Sie denn in aller Welt so aus dem Häuschen ge-
bracht?"

„Ach! es ist eigentlich gar nichts," erwiderte Rosinchen,
nach Fassung ringend; „ein Vögelchen, das ich sehr lieb hatte,
ist mir eben davongeflogen."

Das war uun wahr und auch nicht wahr, wie man's
eben nahm.

„Nun, wenn's weiter nichts ist," beruhigte die Alte, „der
läßt sich ja wohl wieder sangen oder ersetzen. Wie Sie sich
nur so wegen eines losen Vogels, hält' ich bald gesagt, be-
unruhigen können! Aber ich will nun erst rasch hinaussteige»,
damit niir mein Zugvögelchen da Oben nicht etwa während
der Zeit auch davon fliegt. Ich bringe ihm seine Wäsche und
'will sie ihm gleich selbst ein wenig in die Kommode ein-
räumen; die Magd mit dem Korbe ist schon oben. Nachher
komme ich aber noch, um Ihnen das liebe kleine Wirrköpschen
zurecht zu setzen und ein Weilchen mit Ihnen zu plaudern."

Und so rasch als die Füße einer allen, übrigens noch
riihrigen Frau eine Treppe ersteigen können, lief sie nach
Oben. Aber viel rascher war Rosinchen an der Kammerthür
und rief: „Die Lust ist rein, Rudolph! Deine gute Mutter
war's! sie ist nach Oben gegangen. Komm rasch heraus!"

„Ja, wenn ich nur könnte!" antwortete ihr eine dumpfe
Stimme aus dem Innern des Wandschranks heraus. „Ich sitze
hier in einer garstigen Klemme. Habe die himmlische Güte
und mache den fatalen Schrank aus! Ich kann mich kaum
rühren. Deines Vaters alter Pelzjchlasrock, an dem ich mit
dem Gesichte liege, erstickt mich fast."

„Aber barmherziger Himmel!" rief Rosinchen halb lachend,
halb bestürzt, „tvie in aller Welt hast Du es nur angefangen
Dich in dem Wandschrank einznsperren!" und hatte nun nichts
Eiligeres zu Ihun, als den Schliisiel zu suchen. Dieser war
bei dem heftigen Zuschlägen der Thür aus dem Schlüssel-
loch zur Erde gefallen.

„Spute Dich doch, bestes Rosinchen, wen» ich nicht er-
sticken soll!" jammerte der arme Gefangene aus seinem engen
Käfig hervor.

„Ich suche ja nach den, Schlüssel!" erwiderte sie ängstlich.
„Gedulde Dich nur noch einen Augenblick. Eben find' ich ihn."

Und nun versuchte sie, ihn in's Schlüsielloch zu stecken.
„Ja Kuchen!" sagt der Berliner. Der Schliisiel paßte gar
nicht mehr hinein.

„Barmherziger Gott! eile; die Lust fängt an, mir aus-
zugehen," mahnte die dumpse Stimme des Asiesiors.

„Ach bester Rudolph!" ries Rosinchen in halber Bcr-
zweiflung, „ich kann ja den fatalen Schliisiel nicht in das
Schlüsselloch hineinbringen. Das Loch ist viel zu eng. Gott!
was soll ich anfangen! In jedem Augenblicke kann Deine
Mutter zurückkehren. Was soll ich ihr dann sagen?"

Sie klimperte und probirte von neuem in ängstlicher

im Wandschrank. 107

Hast mit dem Schlüssel an dem Schlüsselloche umher! aber er
, wollte und wollte nicht hineinpassen. Nach jedem solcher ver>
i geblichen Versuche rang sic die weißen Lilienhände, während
j der Gefangene die rührendsten guten Worte gab, zu eilen.

Endlich rief Rosinchen fast weinend aus: „Ich bring's
nicht zu Stande! Himmel, was soll daraus werden?"

„Ruf den Lehrling herbei, Rosinchen," erwiderte der :
Assessor mit kläglicher Stimme. „Geh! eile! es ist keine Zeit
! zu versäume», sonst kann niir die Mutter, wenn sie kommt,

: die Augen zudriicken, denn ich ersticke sicherlich. Rufe den
Lehrjuugeu!"

„Aber bedenke doch das Aussehen, bester Rudolph!" klagte
sie wiederum. „Was wird der Junge von mir denken!"

„Ach, jetzt ist's nicht an der Zeit, moralische Betrachtun-
gen anzustellen," ries er dagegen; „Deine Befürchtungen sind
nichts gegen meine Gefahr. Willst Du mich aus Ziererei hier .
ersticken lassen? Das ist Mord."

„Ach Gott! ach Gott! ich eile ja schon!" jammerte das
arme Mädchen. „Verhalte Dich wenigstens ganz ruhig, daß der :
Junge nicht merkt, daß Du darin steckst. Hörst Du, Rudolph!
Versprich es mir! Ach! ich sterbe vor Angst." Und dahin
sprang sie in die Wcrkstätte und ries eilig und so verstörten
Angesichts nach dem Lehrling, daß alle Gesellen nicht anders
glaubten, als es brenne vorn im Hause.

Der Lehrling kam und erhielt den Auftrag, das Schloß
. des Wandschranks zu öffnen. Der Junge nahm den Schlüssel;
aber »ach einigen vergeblichen Versuchen und nachdem er
sich zu iviederholten Malen das Schlüsielloch hin und
her besehen, gab er die Sache aus. „Ich kann das Schloß j
nicht öffnen." sprach er. „In dem Schlüsielloche sitzt etwas,
das den Schlüssel nicht hineinläßt."

„Ach bester Fritze!" bat Rosinchen, „gib Dir doch noch
einmal rechte Mühe. Ich brauche die Mantille, die drinn
hängt, gar zu nothwendig. Ich muß einen Gang in die
! Stadt thun."

„Ach Gott!" dachte der Assessor in seiner Qual, „nun
macht sie mich gar zu einer Mantille!"

Aber jeder neue Versuch des Lehrlings blieb vergeblich.
„Das Schloß muß eine geheime Feder haben, die vorge-
sprungen ist und den Schlüssel nicht cinläßt," sprach er kopffchüt-
telnd. „Ich will's einmal mit dem Dietrich versuchen."

„Ja lhu' das, bester Fritze, aber mach rasch! Du sollst
1 auch ein gutes Trinkgeld haben." Kaum war er zur Thüre
! hinaus, so rief Rosinchen, den holden Mund an s Schlüsselloch
legend; „Rudolph, bester Rudolph! lebst Du noch?"

„Ich weiß es eigentlich selber nicht" erwiderte seufzend
der Assessor, „leben kann man s durchaus nicht nennen, höchstens
vegeliren, in duinpfer Lust bei stockendem Athem das Bischen
Leben fristen. Run Hab' ich einen Begriff von den Qualen
j des Prometheus."

(Fortsetzung folg,.)
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