Fliegende Blätter (23.1856 (Nr. 529-552))

Die Pietistenprobe.

j Treu.historisch au« dem erstcn Decenmum de« achtzehnten Jahrhnndcet«. ^
Noch nic Hatto die Marktkirche der Haupt- und Residenz-
i stadt Hannover eine so zahlreiche Zuhörerschaar in ihrem Innern !
! versammelt gesunden, als während des VormittagSgottcSdienstc« !

am HimmclfahrtStagc 1709, aber auch »och nic war von da j
j andächtigen Gemeinde der Markikirche dem Erscheinen des '
; Prediger« und dem Beginn der Kanzelredc desselben mit so
gespannter Erwartung cntgegcngesehen worden, als eben an |
diesem Tage, an welchem der Candidat der Theologie Gotthcls !
Flügge aus Halle seine Gastpredigt als Mitbewerber um die
durch den Tod des Pastors Hcincmann varant gewordene Stelle j
eines StadtprcdigcrS hielt. Die Bewegung, die sich unter
den Versammelten bei dem Erscheinen Flüggc's auf der Kanzel !
kund gab, zeugte von allgemeiner freudiger Ucbcrraschung, als |
die Kirchcngemcindc in dem erwarteten Prediger eine» jungen
Mann von ungefähr 30 Jahren erblickte, dessen wohlgcbildc- i
tcS etwa« blasses Antlitz den Charakter unverkennbarer Herzens- |
güte und biederer Offenheit trug, und dessen ausdrucksvoller
Blick ernst und prüfend einen kurzen Moment auf der zahl- >

I reich versammelten Menge verweilte.

Da dem Magistrat der Stadt Hannover die Collatur
dieser Stelle zustand, so konnte eS nicht fehlen, daß dip Mit- j
1 glieder desselben in des wohlweisen RathS Bctstübchen sich ^
l sämmtlich eingcsundcn hatten und, noch gespannter alS die j
! übrigen Anwesenden, dem Vorttage deS GastpredigerS entgegen- >

^ sahen, welcher nun von der Kanzel herab mit volltönender !
j und wohlklingender Männerstimme die Predigt begann und >
bald von dem Feuer ttcscr inniger Begeisterung ergriffen, so
wahr und warm den Zuhörern zu Herzen sprach, daß gar I
bald die zierlich mit Spitzen besetzten Schweißtüchlc!» der l
Jungfrauen und Franc» zum Vorschein kamen, um die Thränen