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Die Preis-Komposition.
Das war tauben Ohren gesprochen. Der Bursche hatte
die sich Sträubende mit kräftigem Arm bald in die Höhe ge-
zogen und machte Anstalt, das schwache Mädchen mit Gewalt
in den Kreis der Tanzenden zu ziehen. Das geängstete Kind
verschwendete nutzlose Bitten; selbst ein paar Thränen, die ihren
Vorstellungen zu Hilfe kamen, blieben unbemerkt und ohne Er-
folg. Keiner der lärmenden und tosenden Gesellen hatte Acht
für ihre Bedrängniß. Sie durfte in diesem Kreise vielleicht
nur von Einem ein Mitgefühl für ihre mißliche Lage erwarten,
dieser Eine war aber offenbar ohne Macht, seiner Theilnahme
durch wirksame Mittel Nachdruck zu geben. Eine stumme, za-
gende Bitte aus den schönsten Augen, die er je gesehen, drang
ihm durch die Seele. Es hatte kaum dieses flehenden Blicks
bedurft, um seinen grollenden Unwillen über die dem züchtigen
Mädchen widerfahrne Gewalt zu ausbrechendem Zorn zu stei-
gern. Flammend rothen Angesichts, mit zum Kampf gestählten
Händen und ohne Rücksicht aus die ungleich stärkeren Kräfte,
mit denen er es auszunehmen hatte, fiel er dem rohen Burschen
rasch und keck in die Arme und bewirkte durch den ungestümen
Angriff wie durch den donnernd ausgestoßnen Zuruf: „Schämt
Ihr Euch nicht, einem wehrlosen Mädchen also Gewalt anzu-
thun?" — daß der'Gegner verblüfft und stutzig seine Beute
fahren ließ. Diese, kaum ihrer Fesseln ledig, verschwand au-
genblicklich wie ein gescheuchtes Reh durch die Thüre. Franz
stand nun allein und wohl hilfloser noch, als vor wenig Mi-
nuten Lore, in der Mitte einer Schaar von aufgeregten, zu
Streit und Gewaltthat erhitzten Gesellen. Zwanzig und mehr
Fäuste erhoben sich gegen ihn; aus dem dichten Knäuel um
ihn her war kein Entrinnen, die Glut seiner Wangen wich |
einer bedenklichen Bläffe; er sah sich verloren. „Wie, zehn
gegen . Einen?" — rief er laut und zürnend unter die Menge
hinein; --— „ist das unter braven Leuten Sitte?" — Sein
Wort verklang vor tauben Ohren; er fühlte sich bereits an
Arm und Kragen gepackt und sah eine drohend geschwungene
Faust über seinem Haupte, als eben noch im höchsten kritischen
Momente sein rettender Engel in der Gestalt eines — Land-
jägers ins Mittel, heißt das in die Stube trat. Man errich-
tet für Erfindungen von weit zweifelhafterem Werthe Denk-
male; die Erfindung dieser Sicherheitswächter ist eine der se-
gensreichsten unsres Jahrhunderts, nicht etwa nur für einen j
Rovellenschrciber, der seinen Helden um jeden Preis mit heiler j
Haut aus den Brüchen ziehen möchte, fie ist es für jedes
Herrchen, das sich mit Sicherheit in den Strudel eines Volks-
festes wagen, oder nach der Polizeistunde mit süßem Wohlbe-
hagen seinen vier Pfählen zuwanken will; und man fragt billig
mit Verwunderung, warum dem Erbeutcr dieses Fortschritts
der verdiente Dank so lange vorenthalten bleibt?
Dieser äous ex machina war übrigens keineswegs vom
Zufall herbeigeführt; Lorch en hatte ihn in der Nähe gefun-
den und schleunig an den Ort der Gefahr entsendet. Sein
Erscheinen änderte plötzlich die Szene. . Die gewaltthätigen
Hände ließen augenblicklich von ihrem unglücklichen Opfer ab,
und Franz, von den zudringlichen Fäusten kaum befreit, hielt
es für das beste, ohne irgend eine Genugthuung in aller Stille
sich zu empfehlen. Er befand sich bald wieder auf offner
Straße; hier gingen seine Augen auf und ab und hin und
| her nach dem schönen Kinde, dem er gern, vielleicht auf Rim-
j merwiedersehen, ein Lebewohl gesagt hätte. Sie war und blieb
verschwunden, und still für sich hin sinnend und träumend schritt
er im Abendlichte dem Ort seiner Bestimmung entgegen. Mit
der sinkenden Sonne hatte er Lindheim erreicht; aber erst am
j andern Morgen, bei besserer innerer und äußerer Verfassung
. wollte er den entscheidenden Gang zu dem alten Lehrer und
! Organisten machen. Die für heute eingehaltene Sparsamkeit
! erlaubte ihm, sein Nachtquartier in einem anständigen Wtrths-
j Hause zu nehmen, das vor dem Thore des Marktes lag. Wo-
hin aber, wenn seine Bewerbung eine fruchtlose, wenn ein An-
derer ihm zuvorgekommen und die - Stelle, nun seine einzige
j Hoffnung, schon besetzt war? — Er verzehrte sein bescheidenes
Nachtessen gar still und nachdenklich und ging mit allerlei trüb- !
seligen Vorstellungen zu Bett.
Fast hätte er einem Gefühle von Verlassenheit, wie es den j
| Menschen in der Fremde ohnehin leichtlich überkommt, mehr i
als es wohl sonst in seinem Gemüthe lag, Raum gegeben.
Aber die Abendglocke vom Kirchthurme, der ausgehende Mond, !
! der sein Lager beschien, das Bild Lorch en's, das sich wie von !
selbst mit den Strahlen des milden Nachtgeftirns verwebte, !
zuletzt aber der glückliche, frische Zugendmuth und der heitere !
fröhliche Glaube an den getreuen Gott in und über seinem !
Herzen, wischten bald die nutzlosen Sorgen aus seiner Seele I
und unter dem Spiele von Tönen, Bildern und Träumen !
schlief er ein.
Der Mensch des Abends und der Mensch des Morgens j
sind zwei verschiedene Wesen. Die Nacht vollendet an uns
gleichsam eine neue Schöpfung, denn Entschluß, Muth und
Thatkrast kommen mit dem Morgen. Franz hätte mit der
ausgehenden Sonne sogleich wieder wandern mögen, weit, weit
in die grüne Welt hinein. Der Frühlingshimmel spannte sich
wieder strahlenvoll vor den Fenstern seines Stübchens aus, die
Erde lag, so weit er über Hof und Garten schauen konnte,
wie zu einer Hochzeitfeier geschmückt, und er selbst hätte der
Spielmann sein mögen, ihr den Brautreihen vorzumüsiziren.
Der Besuch und sein Ersolg.
Franz stand vor dem Schulzimmer.
„Herein!" — antwortete eine Stimme auf sein beschei- j
denes Pochen. Er folgte dem Zuruf; eine Schaar von fügend- !
lichen Köpfen richtete sich sogleich nach ihm hin, der Lehrer, ein 1
altersgraues Männchen, schritt ihm freundlich entgegen. Das
vergilbte, furchige Angesicht schmückte ein dünner Kranz von
weißen Haaren; unter buschigen Braunen schauten wohlwollend
die kleinen aschfarbigen Augen hervor, über denen verschoben
und verbogen, zwei runden Kirchenscheibcn nicht unähnlich, die
Brille saß. Franz brachte sein Anliegen mit kurzen Worten j
vor. Der Alte hielt sich anfänglich schweigsam; er trat einen !
Schritt zurück, gleichsam um den jungen Mann von einem bes- >
fern Standpunkt aus zu beobachten, rückte seine Brille in die j
Augen und schien zu überlegen. Franz pochte das Herz; er !
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Die Preis-Komposition.
Das war tauben Ohren gesprochen. Der Bursche hatte
die sich Sträubende mit kräftigem Arm bald in die Höhe ge-
zogen und machte Anstalt, das schwache Mädchen mit Gewalt
in den Kreis der Tanzenden zu ziehen. Das geängstete Kind
verschwendete nutzlose Bitten; selbst ein paar Thränen, die ihren
Vorstellungen zu Hilfe kamen, blieben unbemerkt und ohne Er-
folg. Keiner der lärmenden und tosenden Gesellen hatte Acht
für ihre Bedrängniß. Sie durfte in diesem Kreise vielleicht
nur von Einem ein Mitgefühl für ihre mißliche Lage erwarten,
dieser Eine war aber offenbar ohne Macht, seiner Theilnahme
durch wirksame Mittel Nachdruck zu geben. Eine stumme, za-
gende Bitte aus den schönsten Augen, die er je gesehen, drang
ihm durch die Seele. Es hatte kaum dieses flehenden Blicks
bedurft, um seinen grollenden Unwillen über die dem züchtigen
Mädchen widerfahrne Gewalt zu ausbrechendem Zorn zu stei-
gern. Flammend rothen Angesichts, mit zum Kampf gestählten
Händen und ohne Rücksicht aus die ungleich stärkeren Kräfte,
mit denen er es auszunehmen hatte, fiel er dem rohen Burschen
rasch und keck in die Arme und bewirkte durch den ungestümen
Angriff wie durch den donnernd ausgestoßnen Zuruf: „Schämt
Ihr Euch nicht, einem wehrlosen Mädchen also Gewalt anzu-
thun?" — daß der'Gegner verblüfft und stutzig seine Beute
fahren ließ. Diese, kaum ihrer Fesseln ledig, verschwand au-
genblicklich wie ein gescheuchtes Reh durch die Thüre. Franz
stand nun allein und wohl hilfloser noch, als vor wenig Mi-
nuten Lore, in der Mitte einer Schaar von aufgeregten, zu
Streit und Gewaltthat erhitzten Gesellen. Zwanzig und mehr
Fäuste erhoben sich gegen ihn; aus dem dichten Knäuel um
ihn her war kein Entrinnen, die Glut seiner Wangen wich |
einer bedenklichen Bläffe; er sah sich verloren. „Wie, zehn
gegen . Einen?" — rief er laut und zürnend unter die Menge
hinein; --— „ist das unter braven Leuten Sitte?" — Sein
Wort verklang vor tauben Ohren; er fühlte sich bereits an
Arm und Kragen gepackt und sah eine drohend geschwungene
Faust über seinem Haupte, als eben noch im höchsten kritischen
Momente sein rettender Engel in der Gestalt eines — Land-
jägers ins Mittel, heißt das in die Stube trat. Man errich-
tet für Erfindungen von weit zweifelhafterem Werthe Denk-
male; die Erfindung dieser Sicherheitswächter ist eine der se-
gensreichsten unsres Jahrhunderts, nicht etwa nur für einen j
Rovellenschrciber, der seinen Helden um jeden Preis mit heiler j
Haut aus den Brüchen ziehen möchte, fie ist es für jedes
Herrchen, das sich mit Sicherheit in den Strudel eines Volks-
festes wagen, oder nach der Polizeistunde mit süßem Wohlbe-
hagen seinen vier Pfählen zuwanken will; und man fragt billig
mit Verwunderung, warum dem Erbeutcr dieses Fortschritts
der verdiente Dank so lange vorenthalten bleibt?
Dieser äous ex machina war übrigens keineswegs vom
Zufall herbeigeführt; Lorch en hatte ihn in der Nähe gefun-
den und schleunig an den Ort der Gefahr entsendet. Sein
Erscheinen änderte plötzlich die Szene. . Die gewaltthätigen
Hände ließen augenblicklich von ihrem unglücklichen Opfer ab,
und Franz, von den zudringlichen Fäusten kaum befreit, hielt
es für das beste, ohne irgend eine Genugthuung in aller Stille
sich zu empfehlen. Er befand sich bald wieder auf offner
Straße; hier gingen seine Augen auf und ab und hin und
| her nach dem schönen Kinde, dem er gern, vielleicht auf Rim-
j merwiedersehen, ein Lebewohl gesagt hätte. Sie war und blieb
verschwunden, und still für sich hin sinnend und träumend schritt
er im Abendlichte dem Ort seiner Bestimmung entgegen. Mit
der sinkenden Sonne hatte er Lindheim erreicht; aber erst am
j andern Morgen, bei besserer innerer und äußerer Verfassung
. wollte er den entscheidenden Gang zu dem alten Lehrer und
! Organisten machen. Die für heute eingehaltene Sparsamkeit
! erlaubte ihm, sein Nachtquartier in einem anständigen Wtrths-
j Hause zu nehmen, das vor dem Thore des Marktes lag. Wo-
hin aber, wenn seine Bewerbung eine fruchtlose, wenn ein An-
derer ihm zuvorgekommen und die - Stelle, nun seine einzige
j Hoffnung, schon besetzt war? — Er verzehrte sein bescheidenes
Nachtessen gar still und nachdenklich und ging mit allerlei trüb- !
seligen Vorstellungen zu Bett.
Fast hätte er einem Gefühle von Verlassenheit, wie es den j
| Menschen in der Fremde ohnehin leichtlich überkommt, mehr i
als es wohl sonst in seinem Gemüthe lag, Raum gegeben.
Aber die Abendglocke vom Kirchthurme, der ausgehende Mond, !
! der sein Lager beschien, das Bild Lorch en's, das sich wie von !
selbst mit den Strahlen des milden Nachtgeftirns verwebte, !
zuletzt aber der glückliche, frische Zugendmuth und der heitere !
fröhliche Glaube an den getreuen Gott in und über seinem !
Herzen, wischten bald die nutzlosen Sorgen aus seiner Seele I
und unter dem Spiele von Tönen, Bildern und Träumen !
schlief er ein.
Der Mensch des Abends und der Mensch des Morgens j
sind zwei verschiedene Wesen. Die Nacht vollendet an uns
gleichsam eine neue Schöpfung, denn Entschluß, Muth und
Thatkrast kommen mit dem Morgen. Franz hätte mit der
ausgehenden Sonne sogleich wieder wandern mögen, weit, weit
in die grüne Welt hinein. Der Frühlingshimmel spannte sich
wieder strahlenvoll vor den Fenstern seines Stübchens aus, die
Erde lag, so weit er über Hof und Garten schauen konnte,
wie zu einer Hochzeitfeier geschmückt, und er selbst hätte der
Spielmann sein mögen, ihr den Brautreihen vorzumüsiziren.
Der Besuch und sein Ersolg.
Franz stand vor dem Schulzimmer.
„Herein!" — antwortete eine Stimme auf sein beschei- j
denes Pochen. Er folgte dem Zuruf; eine Schaar von fügend- !
lichen Köpfen richtete sich sogleich nach ihm hin, der Lehrer, ein 1
altersgraues Männchen, schritt ihm freundlich entgegen. Das
vergilbte, furchige Angesicht schmückte ein dünner Kranz von
weißen Haaren; unter buschigen Braunen schauten wohlwollend
die kleinen aschfarbigen Augen hervor, über denen verschoben
und verbogen, zwei runden Kirchenscheibcn nicht unähnlich, die
Brille saß. Franz brachte sein Anliegen mit kurzen Worten j
vor. Der Alte hielt sich anfänglich schweigsam; er trat einen !
Schritt zurück, gleichsam um den jungen Mann von einem bes- >
fern Standpunkt aus zu beobachten, rückte seine Brille in die j
Augen und schien zu überlegen. Franz pochte das Herz; er !
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