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Die verhängnißvolle Uhr oder

war-: Die verwittwete Frau Ober - Berg - Gegenprobiererin
Lydia Schulze.

Und doch fehlte noch das Prachtstück der Toilette, die
alte, ebenfalls mit Brillanten verzierte Uhr, das Hochzeits-
gcschenk des seligen Ober-Berg-Gegenprobierers. Es war
etwas daran entzwei gegangen und sie befand sich deshalb
schon seit Wochen in den Händen des Uhrmachers. Der
Mann hatte strengen Befehl erhalten, das Kleinod für die
heutige Gesellschaft in Stand zu setzen, er hatte es auch
versprochen — aber die Uhr war nicht- gekommen und nun
war Rieke ausgesandt, sie zu holen.

Eben kam das Mädchen zurück, athemlos, wie sich's für
eine rechtschaffene Zofe schickt — aber ach, in ihren Mienen
war keine gute Nachricht zu lesen.

„Nun Rieke?" rief ihr die Herrin angstvoll entgegen.

„Sic ist nicht fertig," erwiderte die Magd mit zittern-
! der Stimme.

„Nicht fertig!" wiederholte Tante Lydia und schlug" die
Hände so heftig zusammen, daß einer der engen Glacehand-
schuhe platzte. „Nicht fertig und das wagst du mir zu sagen

— wagst, mir ohne Uhr vor die Augen zu treten! — Aber
freilich, du hast dich nie für das Wohl und Wehe deiner
Herrschaft interessirt."

„Aber, Frau Ober-Berg..."

„Still, kein Wort mehr!" fiel ihr die erzürnte Herrin
in's Wort, und die lange Gestalt wurde noch länger, das
rothe Antlitz noch röther im Feuer des Zornes. „Ohne Uhr
kann ich nicht bei der Frau Ober-Bürgermeisterin erscheinen

— jedes Kind würde das cinsehen — daß du zu dumm
dazu bist, thut mir leid um dich. Gleich gehst du und holst
sie, wie sie auch sein mag — und daß du mir nicht unter-
wegs bei Schlossers Martin stehen bleibst, wie das neulich
die Frau Postmeisterin mit angesehen hat. Es ist mir un-
begreiflich, wie ein ordentliches Mädchen, das in einem an-
ständigen Hause dient, sich mit solchem wildaussehendcn,
rußigen Burschen einlassen kann und ich will dir hiermit
sagen, daß ich das nicht länger dulde — nun aber mach',
daß du fortkommst!"

Rieke ging mit trotzig aufgeworfener Lippe, während
sich Tante Lydia niedersetzte und in schwere Gedanken ver-
sank. Wohin war das Siegesgefühl, das vor wenigen Augen-
blicken ihren Busen schwellte, — ach, sie sollte nun einmal
nicht vergessen, daß sie zum Unglück geboren war. Es kam
ihr unbegreiflich thöricht vor, daß sie, die vom Schicksal Ver-
folgte, sich überhaupt noch auf irgend Etwas gefreut hatte.

— Und auf die heutige Gesellschaft hatte sie sich gefreut —
mehr als das, sic hatte ihr mit einer gewissen Kampflust
entgegen gesehen. Heute sollte die neue Frau Doktorin zum
ersten Male in der Gesellschaft der Frauen erscheinen —
das kleine, blasse, schnippische Ding, das schon als Mädchen
so hochmüthig that. Sie hatte von ihrem Manne znm Hoch-
zeitgeschenk eine sehr schöne Uhr mit blauer Emaille bekommen —
wie würde sie damit prunken— wie nothwendig war's daher,
daß Tante Lydia Alles aufbot, um nichts von der Bewun-

das Sprichwort der Zukunft.

derung zu verlieren, die ihre Brillanten seit einem Viertel-
jahrhundert in allen Winkelfelder Damen-Gesellschaften mono-
polisirt hatten.

Und nun denken zu müssen, daß die Uhr möglicherweise
auseinander genommen, d. h. für die heutige Schlacht ganz
unbrauchbar war! Aber so ging es ihr ja immer! Alles,
was sie unternahm, mißlang — Alles, wornach sie sich
sehnte, blieb ihr versagt.

In vielgestaltigem, düsterem Reigen zogen die Bilder
der Vergangenheit an ihrem geistigen Auge vorüber. Sie
sah sich als Kind vom Lehrer gescholten, weil ihre poetische
Seele, die im Lande der Märchen zu lustwandeln liebte, die
trockenen Aufgaben des Katechismus und des Einmaleins
immer wieder vergaß. Sie sah sich als junges Mädchen, all
ihren Träumen widersprechend, als ein langes, eckiges, farb-
loses Wesen; so groß, daß sie bald alle tanzfähigen Jüng-
linge ihrer Vaterstadt überragte. Sie gedachte ihrer Heirath.
Ach, dieser Bund war nicht in der Hoffnung geschlossen, daß
das Rauhe mit dem Zarten sich zum guten Klange vereinigen
würde, sondern nur,, weil der hünenhafte Ober-Berg-Gegen-
probierer Ferdinand Schulze der Einzige war, der es wagte,
um die lange Lydia zu werben. Unvcrheirathet konnte sie
doch nicht bleiben — so gab sie ihm denn ihre Hand und
ihr Vermögen; ihr Herz, das wußte sic vorher, blieb un-
verstanden, unbefriedigt.

Und nicht einmal was andere ungeliebte Frauen ent-
schädigt, nicht einmal die Tröstungen des Ehrgeizes blieben
ihr. Der schöne, lange, volltönende Titel: „Frau Ober-
Berg-Gegenprobiererin", der ihr doch von Gott und Rechts-
wegen gebührte, wurde von der Mode der Zeit angetastet —
man fing an, sic „Frau Schulze" zu nennen. Frau Schulze!
Ihr ganzes Sein schauderte vor diesem plebejischen Namen
zurück und so hatte sie's eingeführt, daß ihr Taufname, Lydia,
wieder in Gebrauch kam. Was hatte sie nun durch ihre Ehe,
die der Himmel sehr bald durch den Tod des Ober - Berg-
Gegenprobierers wieder trennte, gewonnen?

Sie faltete die Hände, und sah wehmüthigen Blickes
aus dem Fenster. Da lag der Marktplatz von Winkelfeld
still und leer in der heißen Julisonne. An allen Fenstern
der umliegenden Häuser waren die Rouleaur niedergelassen,
kein Fußtritt ließ sich hören, keine Stimme.

„Es ist das Bild meines Lebens," sagte sie zu sich
selbst, „vornehm aber einsam!" Doch nun wachte eine vor-
wurfsvolle Stimme in ihr auf, die da sagte: „es ist deine
Schuld, daß du einsam bist" und wieder erschien vor ihrem
j geistigen Auge eine Gestalt — aber diesmal, die eines Mannes,
j Zierlich umschloß seine Glieder ein fadenscheiniges Röcklein;
i zierlich war das abgetragene Halstuch unter den weißen,

| steifen Vatermördern geknüpft; zierlich waren die blank-
' gewichsten, viclgcflickten Stiefel; zierlich war jede Bewegung
der kleinen Gestalt, die trotz ihrer ftinfzig Jahre eine große
Beweglichkeit besaß; zierlich war die Ausdrucksweise des
freundlichen, alten Herrn — ans seinen hellen, blauen
Augen aber leuchtete ein Herz, groß genug, die ganze Frau
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