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170

Die verhängnißvolle Uhr oder

rungen haben, nur das Erringen ist's, was uns armen
Menschenkindern einen kurzen Genuß zu gewähren vermag.

In gedrückter Stimmung ging Tante Lydia die Treppe
hinauf, trat in ihr Schlafzimmer und bedeutete Ricken, daß
sie allein sein wolle. Und während sie dann langsam Stück
für Stück ihres Anzuges ablegte, kam das Gefühl von der
Nichtigkeit aller Erdendinge mit erdrückender Schwere über
sie. Wie hatte sie sich vor wenigen Stunden über sich selbst
gefreut — nun stand sie da, des Schmuckes baar; ver-
schwunden waren ihre stattlichen Conturen, in langen geraden
Falten hing das weiße Nachtgewand vom Halse auf die
Füße nieder. Sie sah um zehn Jahre älter auS, als da sie
sich Nachmittags im Spiegel betrachtet hatte. Aber sie war
eine große Seele. Sie wendete die Augen nicht ab von
dem Bilde, das ihr jetzt entgegen sah, schüttelte nur langsam
den Kopf, und that endlich, mit einem wehmüthigen Blicke
nach oben, den ewig denkwürdigen Ausspruch:

„Du lieber Himmel, was ist doch das Weib ohne
Krinoline!"

Es hätten leicht ihre letzten Worte bleiben können, denn
als sie dieselben ausgesprochen hatte, legte sie sich nieder und
bald verkündigten ihre schweren Athemzüge, daß sie nach des
Tages Last und Hitze sanft entschlummert war.

Doch ach! „Das Unglück schreitet schnell." Diesmal
kam es freilich gekrochen, unter dem Bette hervor, in Gestalt
zweier zerlumpter Männer. Vorsichtig richteten sie sich auf,
sahen mit gierigen Blicken umher und wendeten sich dem
Tische zu, worauf die Schmucksachen lagen, die Tante Lydia
vor Kurzem noch getragen hatte.

Schon streckten sie die Hand darnach aus, da krachte eine
der alten Dielen unter ihren Füßen. Tante Lydia fuhr auf;
in demselben Momente war aber auch schon einer der Männer
an ihrer Seite und hielt ihr den Mund zu, während der
Andere mit drohender Geberde seinen Stock über ihrem
Haupte schwang, daß sic starr vor Entsetzen in ihre Kiffen
zurückfiel. Darauf band man ihr die Hände, die Füße, schob
ihr einen Knebel in den Mund und ließ sie liegen, das
Entsetzliche mitanzusehcn — mitanzusehen, wie ihre Schmuck-
sachen in den Taschen dieser Unholde verschwanden, wie sie ihren
Sekretair erbrachen, ihre Kasse leerten und endlich einen
Korb, den sie schon vorher mit Wäsche und Silberzeug ge-
füllt hatten, unter dem Bette hervorzogen. Jetzt trat der
Eine an sie heran:

„Wo ist das andere Geld?" fragte er in einem Tone,
der ihr das Blut erstarren machte und als sie darauf keine
Antwort gab — sie konnte ja nicht, geknebelt, wie sie war
— erhob er abermals seine entsetzliche Keule.

Schon hatte Tante Lydia ihre arme Seele dem Herrn
empfohlen, da packte der zweite der Räuber seinen Kameraden
am Aermel.

„Laß gut sein," sagte er. „Müssen machen, daß wir
fortkommen, sonst wird's zu spät für den Frühzug."

Brummend ließ sich der Wütherich fortziehen. Tante
Lydia sah ihnen nach, wie sie am Fenster vorbei der Thüre

das Sprichwort der Zukunft.

zugingen; aber trotz der Hellen Sommernacht war sie nicht
im Stande, ihre Züge zu unterscheiden. Den unteren Theil
ihrer Gesichter bedeckte ein struppiger Bart, Stirn und Augen
waren vom Hut beschattet — keine Möglichkeit die Männer
wieder zu erkennen und wenn sie ihnen Auge in Auge gegen-
überstand.

War's denn möglich, daß das Unrecht triumphirte?
Sollte Ricke nicht erwachen, und Lärm schlagen, oder der
Nachtwächter mit Horn und Stab dem bedrohten Eigenthum
seiner Schutzbefohlenen zu Hilfe eilen? — Aber wie Tante
Lydia auch lauschte, nichts ließ sich hören, alö das leise, leise
Knarren der Hausthür und dann der Schritt der beiden
Diebe, die sich eilig entfernten.

Endlich war Alles still und die qualvollste Nacht, die
Tante Lydia je erlebt, nahm ihren Verlauf. Das haarsträu-
bende Entsetzen, in der Gewalt dieser Unholde gewesen zu sein,
brach erst jetzt mit seinem ganzen Gewicht über sie herein.
Aus allen Winkeln glaubte sie die Augen der Beiden hervor-
starren zu sehen und das Herz stand ihr still, wenn nur ein
Mäuschen über den Boden huschte oder wenn eine Eule in
der Ferne schrie. Dazu die Schmerzen an den gefesselten
Gelenken, der fürchterliche Knebel, der sie dem Ersticken nahe
brachte!

Und während sie so elend war, daß sie sich einmal über
das andere den Tod herbeiwünschte, ging draußen Alles seinen
gewohnten Gang. Die Thurmuhr verkündigte eine Viertel-
stunde nach der andern; mit jedem vollen Stundenschlage
kam der Nachtwächter und rief seinen Spruch; die frühe
Dämmerung des Sommermorgens brach herein, das erste
Schwalbengezwitscher ließ sich hören — beim Bäcker nebenan
wurden die Fensterläden aufgestoßen, dann wurden Nickens
schwere Schritte auf der Treppe laut; nun ging sie aus dem
Hause um Wasser zu holen — gewiß schwatzte sie am
Brunnen in gewohnter Weise; an ihre jammervolle Herrin
dachte sie nicht. — Wer dachte überhaupt an sie? — Wie
Schuppen fiel es ihr von den Augen und sic begriff zum
ersten Male in ihrem Leben die ganze Bedeutung des Bibel-
wortes: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei," —
jetzt, da es wahrscheinlich zu spät war!

Aber endlich, endlich kam die ersehnte Erlösung und
zwar in Gestalt der vorsichtig eintretenden Ricke, die sich
überzeugen wollte, ob die Frau Oberberggegenprobiererin so
gegen allen Gebrauch die Zeit verschlafen hätte. Ahnungslos
öffnete sie die Thür — da lag die arme Mißhandelte, die
starren großen Augen dem Eingänge zugekehrt, mit dem
dicken Knebel im Munde.

Einen Augenblick stand Ricke wie gelähmt, dann brach
sie in einen Schrei des Entsetzens aus und stürzte mit dem
Ausrufe: „Hilfe, Hilfe, Mörder, Diebe!" die Treppe hin-
unter und zum Hause hinaus.

Und der Zufall oder vielmehr die Vorsehung wollte,
daß in demselben Momente der Polizeicommissär Hyppolit
Morgenstern vorüberging. So war'S denn natürlich, daß
er kraft seines Amtes wie seiner Liebe der Erste war, der
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