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Die verhängnisvolle Uhr oder

einsam! Punkt acht Uhr, wenn die gesammte, wohlgeschulte
Männerwelt des Städtchens aus den Clubs nach Hause kam,
klingelte auch ihre Thür und gleich darauf ging an ihrem
Horizonte der freundliche Morgenstern auf. Sie aßen ihre
Suppe miteinander und saßen dann plaudernd beisammen;
Sie strickte, Er rauchte seine Pfeife, und wenn ihr Gemüth
mehr als gewöhnlich bedrückt war, las er ihr aus dem neuen
Pitaval vor, ihre sinkende Hoffnung durch den Hinweis auf
andere, eben so düstere Vorgänge zu stärken, die endlich doch
nach allen Seiten aufgeklärt und „in der Lanka Lass, heiligen
Registern", vulgo dem Polizeiarchiv, verzeichnet worden
waren.

In solcher Weise verging der Winter — der Frühling
kam, aber für die arme Tante Lydia schien dieser ewige
Freudenspender nur „welkes Laub und welkes Hoffen" zu
bringen. Morgenstcrn's Zuspruch schien seine Macht, der
neue Pitaval sein Interesse zu verlieren. Ihr Auge wurde
immer trüber, ihr Gang immer schleppender und die sonst
so kerzengerade Gestalt schien sich zu beugen unter der Last
des Grames. .Ob es die verlorene Uhr war, nach der sie
sich so schmerzlich sehnte, oder Hymens Rosenketten, wird für
menschlichen Scharfblick wohl ewig ein Geheimniß bleiben, denn
wer vermöchte die Höhen und Tiefen eines Frauenherzens
zu ermessen!

Der Polizeicommissär hatte sich lange vergebens be-
sonnen, wodurch er seine Freundin zu zerstreuen vermöchte.
Zum Brunnentrinken war es noch zu kalt, zur großen Wäsche
fehlte das unentbehrliche Regenwasser — endlich kam ihm
ein glücklicher Gedanke.

Er gab vor, daß ihn Geschäfte in die Hauptstadt riefen,
und schlug der Frau Oberberggegenprobiererin vor, ihn zu
begleiten. (Daß er sie immer mit ihrem vollen Titel an-
redete, war eine der zarten Aufmerksamkeiten, die sie ihm
so hoch anrechnete.) In der Hauptstadt war gerade die
Ostermesse im Gange. Da gab es tausenderlei zu sehen,
da konnte sie Einkäufe machen, ihr berühmtes Talent des
Abhaudelns zur Geltung bringen — gewiß, sie kam in
besserer Stimmung zurück.

Rach einigen Bedenklichkeiten ließ sie sich denn auch
bereit finden. Der Gedanke, allein in ihrem Hause zu bleiben,
war gar zu fürchterlich. Um den Anstand zu wahren, be-
schloß sie Ricke mitzunehmen, denn waren auch die Winkel-
felder so verständig und so unhöflich, ein zarteS Verhältniß
(d. h. ein Verhältniß, welches unzarte Vorsichtsmaßregeln
vorschreibt) zwischen ihr und dem kleinen Morgenstern nicht
für möglich zu halten, so konnte man doch nicht wissen, wie
die Hauptstadt urtheilen würde, wenn eine Wittib in den
besten Jahren mit einem dito Junggesellen unbehütet auf
Reisen ging.

Nachdem in dieser Weise der größte Stein des Anstoßes
beseitigt war, wurde gepackt, das Haus bestellt, der Obhut
des bärtigen Hippel anvertraut — die kleine Winkelfeldcr
Karavane zog aus und kam wohlbehalten mit allen Koffern,
Reisetaschen und Hutschachteln in der Hauptstadt an.

das Sprichwort der Zukunft.

Es war ein sonniger Apriltag, als sich Tante Lydia
an der Seite ihres Freundes in das Labyrinth der Buden,
in das Gewirr der Käufer und Verkäufer wagte. Herrlich
war sie anzuschen mit dem nagelneuen Hute, dem Meister-
werke einer hauptstädtischen Putzmacherin, auf dem hoch-
getragenen Haupte; mit dem rothen gewirkten Shawl und
dem weitbauschigcn Seidenkleide über der stattlichsten Krino-
line. Und war es der Wechsel der Luft, der jetzt schon seinen
Zauber geltend machte, oder flüsterte ihr eine Ahnung zu:
„hebe die Blicke, die trübe sich senkten!" — gewiß ist, daß
sie mit lang entbehrter Lebenslust von ihrer Höhe in das
Treiben der Menschen nicdersah. Alles erregte ihr Interesse,
Alles gefiel ihr, am liebsten hätte sie Alles gekauft und da
das nicht anging, fragte sie wenigstens nach allen Preisen,
um sich dann kopfschüttelnd und ellcnbogenstoßend weiter zu
drängen, während ihr die Verkäufer nachschrieen, sie zur Um-
kehr einladend.

gnblid). kam sie an eine Bude, wo Alles vereinigt i
schien, was die Industrie des neunzehnten Jahrhunderts er- !
sonnen und ausgeführt. Vom eleganten Photographie-Album
bis zur bescheidnen Kehrichtschaufel — Alles fabelhaft billig;
neunzig Prozent unter Fabrikpreisen. Da faßte sie Posto,
da wollte sie sich für Jahre hinaus versorgen.

Und wie sie dastand und suchte und wählte, während
sich ihr kleiner Ritter mit großem Eifer und geringem Er-
folg bemühte, sie vor den Stößen der Vorüberdrängenden
zu schützen, schoben sich zwei wüst aussshende Gesellen heran.
Ihre Kleider waren schmutzig und zerfetzt, den untern Theil
des Gesichtes bedeckte ein struppiger Bart, Stirn und Augen
waren vom breitrandigem Hute beschattet. Plötzlich blieben
sie stehen — mit hämischem Lachen zeigte der eine auf die
lange in Seide rauschende Dame, die da vor ihm stand,
stieß seinen Gefährten in die Seite und raunte ihm zu:
„Was ist doch das Weib ohne Krinoline!"

Tante Lydia erbebte. Mit schreckensbleichem Antlitz sah
sie sich um und ein kaum hörbares: „Sie sinds!" entrang
sich ihren zitternden Lippen.

Aber Morgenstern hörte und verstand und in demselben
Moment fühlten sich die Vagabunden gepackt, wie von scharfen
Vogelkrallen. Ein kleiner Herr mit steifen Vatermördern
war's, der sich an ihre Lumpen klammerte, und seine schrille,
weithinschallende Stimme rief: „Haltet sic fest, sie sind Diebe,
Räuber, ich will's beweisen — ich, der Polizei - Commissär
von Winkelfeld!"

Es war nutzlos, daß sie wie rasend um sich schlugen,
von allen Seiten kam Hilfe herbei, sie wurden fcstgehalten,
forttransportirt, in sicheren Gewahrsam gebracht. Und eben
so nutzlos war ihr Läugnen, denn, o Wunder! inmitten
ihrer Lumpen, sorgsam eingenäht, fand sich die sehnsuchtsvoll
gesuchte Uhr — sie hatten gehofft, sie während der Messe
an einen Fremden verkaufen zu können.

Was soll ich noch hinzufügen? — Alle Zweifel waren
geendet, als glückliches Brautpaar kehrten die Frau Ober-
Berg-Gegenprobiercrin Lydia Schulze und der Herr Polizei-
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