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Die verhängnißvollen Distichen.

gewickelt, die sich am Tage darauf in die langen Lacken auf-
lösen sollten, in die prächtigen langen Locken, in denen Oskars
Herz sich verfangen hatte. So saß sie da, ein Bild reizender
Unschuld, verführerischer Einfalt und ahnte nicht, daß Oskar mit
fieberhafter Spannung alle ihre Bewegungen verfolgte.

Armer Oskar! Wohl über eine Stunde mußte er in einer
sehr unbequemen kauernden Stellung aushalten; schon wurden
j ihm Knie und Rücken müde, ... da endlich faltete Paula
! das Strickzeug zusammen. Ihre Augen schienen etwas zu
! suchen, was sich offenbar nicht vorfand; unruhig gingen sie in
! der Laube umher, auch unter den Bänken hielten sie sorgfältige
Musterung. Sie stand auf und wandte sich um, so daß Oskar
! ihr nun mit Erbeben voll ins Gesicht sehen konnte. Ein
Strahl plötzlicher Freude belebte den Reiz ihrer anmuthsvollen
Züge noch höher . . . sie gewahrte das rosa Papier, nahm
es auf und . . . jetzt halte aus, o Herz des Liebenden und
sprenge nicht die leise und krampfhaft athmende Brust! . . .

! sie nahm es auf und . . . was wird sie sagen, wenn sie es
lesen wird, was wird sie dann thun? o! o! ... sie nahm
es also auf, entfaltete es sorgsam, strich cs mit den feinen
zarten Händen, die das „Gebet einer Jungfrau" und „die
Klosterglocken" so innig zu spielen verstanden, nach allen Seiten
hin glatt. . . und — wickelte den Strickstrumpf mit lächelnder
j Seelenruhe darin ein, augenscheinlich nicht im mindesten darum
bekümmert, was etwa auf dem Papier geschrieben sei. Dann
sprang sie tkergnügt dem väterlichen Hanse zu. Die Ferse war
angestrickt.

Und Oskar? . . . Erlaß cs mir, thenre mitfühlende Leserin,
den Sturm der einander widerstreitenden Empfindungen zu
[ schildern, der nun sein Inneres durchtobte! . . Wer kennt die
Wege des Schicksals?

V. Capitcl.

Der ScfiecreuftfiCeifer.

Jahre sind über jenem unglücklichen Tage hingegangen.
Unsere Erzählung eilt zum Schluß. Roch dieses Capitel, und
es ist überstanden!

Wie? hoffe ich meine Leser fragen zu hören, so kurz fertigst
du deine Helden ab? Du hast ja kaum begonnen, und willst
schon enden? Und was ist aus Paula, was ist aus Oskar
j geworden?

Geduld! Geduld! Ihr sollt Alles erfahren. Nur deinen
Dank will ich mir verdienen, geliebtes Publikum; ich kann es
nicht über mein Schriftstellergewissen bringen, das noch ein sehr
I zartes und weiches ist, dich wie andere meiner Collegen drei
j oder vier Bände hindurch, an der Nase herumzuführen und deine
Ungeduld auf's Höchste zu spannen. Was soll ich dich hinein-
| blicken lassen in die Tiefen menschlichen Elends und geistiger
Nacht? Du kennst das Alles schon zu gut und, ich fürchte,
nicht nur ans Büchern! Was soll ich dir von Paula sagen
: und, ach, was von Oskar? •

Dort die glänzende Straße herauf, wo die vielen Häuser
mit den blanken Spiegelscheiben stehen, kommt ein Mann ein-
| hergewankt, der einen Karren führt, einen Holzkarrcn, auf dem
{ sich Schleifsteine der verschiedensten Größe und Güte befinden.

An der Außenseite des Karren hängen Scheeren und Messer.
Jetzt hält der bleiche Mann mit den dunkeln, unheimlich blickenden
Augen vor einem der schönsten Häuser, setzt das Tretrad seines
großen Sandsteins in Bewegung, befeuchtet es mit Wasser und
läßt sein Messer schrill daran schnurren.

Wer ist dieser Mann, der in geflickten Kleidern, mit ver-
wildertem Haar und Bart und eingedrücktem Hute laut und
schmerzlich ansrnft: Nichts zu schleifen, meine Herrschaften? . . .
Wir erkennen ihn nicht, aber eine furchtbare, gänzlich unmotivirte
Ahnung sagt uns: es ist Oskar! Aber wie war der Held
unserer vier ersten Capitcl in diesen elenden Zustand gekommen?
Hatte er nicht Laubsägearbeiten und Distichen verfertigen, den
„Pythagoras" beweisen, und „lieben" in vier Sprachen gekonnt?
Ja, das letztere eben war sein Unglück. Von dem Schlage,
der ihn danials vor zehn Jahren getroffen, als er am Zaun
kauerte und in die Laube sah, hatte er sich nicht mehr anfzn-
raffen vermocht. So war es auch nur eine äußere Veranlassung
zum völligen Bruch mit der Geliebten gewesen, daß Frau Pfeffer
am nächsten Tage in sittlicher Entrüstung zu seiner Mutter ge-
kommen war, sie von der dreisten Huldigung des jungen Mannes
in Kenntniß zu setzen und dergleichen Dinge sich ein für alle
Mal zu verbitten. Das betreffende gravirende Testimonium,
die verhängnißvollen Distichen aber hatte die gute Frau nicht
mitgebracht, weil es ihr insgeheim schmeichelte, ihre Paula
poetisch verherrlicht zu sehen. Es genügte die einfache That-
sache, die der arme niedergeschmetterte Oskar auch ohne Weiteres
Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Die verhängnißvollen Distichen oder Der Scheerenschleifer"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Spitzer, Emanuel
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Mann <Motiv>
Schleifen
Handwagen
Haustür <Motiv>
Schere
Wanderarbeit
Messer <Motiv>
Schleifstein
Schleifwerkzeug
Karikatur
Kind <Motiv>
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Alle Rechte vorbehalten - Freier Zugang
Creditline
Fliegende Blätter, 61.1874, Nr. 1520, S. 74
 
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